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Hessischer Volksfreund, 22. Juni 1912

Sandbach, 21. Juni 01

Seit drei Wochen ringen die organisierten Arbeiter der Gummifabrik (Veith-Werke) um ihr Koalitionsrecht. Die Fabrikleitung, die zuerst anscheinend sich damit abzufinden suchte, daß sich die Arbeiter vom Verbande anschlossen, hat seit der Zeit, wo die Arbeiter Forderungen in sanitärer und materieller Beziehung stellten, ihre Stellungnahme geändert und versuchte nun mit allen Mitteln, den Verband zu schwächen. Nicht nur, daß die Nichtorganisierten bei jeder Gelegenheit bevorzugt wurden, sondern es wurde auch jede Gelegenheit benutzt, die für die Organisation tätigen Kollegen bei den geringsten Vorkommnissen zu entlassen. Alles Vorstelligwerden der Verbandsfunktionäre nutzte nichts; im Gegenteil: als Antwort wurde wieder ein Vertrauensmann wegen "Arbeitsmangel" entlassen, der noch abends vorher Überstunden machen sollte. Dabei wurden tagtäglich Neueinstellungen vorgenommen. Die Arbeiter waren über die Vorkommnisse so empört, daß sie, nachdem alle anderen Mittel versagten, fast einstimmig beschlossen, in den Streik zu treten. Der Betrieb wird mühsam mit Streikbrechern, "Bauern" und in den Lohnarbeiterstand "zurückgekehrte" Handwerksmeister aufrecht erhalten. Die Polizei bemüht sich aufs Äußerste, jeden daherkommenden Vagabund als Arbeiter hineinzudirigieren, trotzdem man sonst ganz anders mit solchen Leuten verfährt. Der Herr "Oberwachtmeister" aus Erbach erdreistete sich sogar, einem Streikposten gegenüber zu sagen, daß schließlich mit ihnen (den Streikposten) "ganzes Bataillon kehrt gemacht wird". Er meinte damit ins Kittchen; aber da müssen zunächst ganz andere hin als friedliebende Arbeiter. Gummiarbeiter, die auch in der Lage sind, einen Reifen zu machen, hat die Fabrik trotz großer Mühen noch nicht gefunden. Es werden fast lediglich Fahrraddecken und Schläuche hergestellt. Wir bedauern nur diejenigen, die dies von ungeübten Leuten hergestellte Material kaufen. Da als Konsumenten fast nur Arbeiter in Betracht kommen, wird die Frage noch zu prüfen sein, ob diese dies von Streikbrechern hergestellte Material kaufen wollen. Zunächst ersuchen wir aber alle intelligenten Arbeiter (auf Schlesier hat die Fabrikleitung es hauptsächlich abgesehen, von den anderen hat sie jedenfalls die Nase voll), den Betrieb zu meiden, denn die Verhältnisse dort sind wirklich nicht so verlockend, der Stundenlohn beträgt 18 bis 30 Pfennig, im Höchstfalle 35 Pfennig, und im Akkord kann nur etwas verdient werden, wenn bis in die späte Nacht hinein geschuftet wird. Die Behandlung ist so, daß ein etwas gebildeter Mensch Anstoß nehmen muß. Kosenamen wie "Ochse" und solche, die ihres gemeinen Ausdruckes nicht hierher gesetzt werden können, werden selbst von der Direktion nicht verschmäht. Also kein Arbeiter werde zum Streikbrecher.