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Mobilmachung und "Augusterlebnis"





Dieses Heft - das erste von insgesamt zwölf bis 1916 erschienenen - wurde verfasst von Prof. Rudolf Kissinger, der von 1914 bis 1931 Direktor der Eleonorenschule war, der 1911 gegründeten Oberschule für Mädchen (Lyzeum). Im Vorwort erklärt er, warum er dieses Heft geschrieben hat:

Die große Zeit ist wert, auch in Einzelzügen im Gedächtnis festgehalten zu werden. Diese Erkenntnis veranlaßte den Inhaber der Hofbuch- und Steindruckerei Herrn H. Hohmann an mich mit der Bitte heranzutreten, eine kurze Schilderung der Vorgänge in unserer Stadt bei der Mobilmachung der hessischen Truppen zu entwerfen. So entstand rasch dies Büchlein. Mein Honorar hatte ich von vornherein für das Rote Kreuz bestimmt, wie auch der Verlag gewillt ist, der guten Sache hierdurch Mittel zuzuführen.

Möge dies Schriftchen, das gewiß auch unsern Soldaten im Felde als Gruß aus der Heimat willkommen sein wird, sich viele Freunde erwerben, die es gerne als Erinnerung an die großen Ereignisse für die späteren Zeiten aufbewahren.


Kissinger schildert die politischen Vorgänge seit dem 28. Juni 1914, dem Tag des Attentates auf den österreichisch - ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajevo. Für ihn - wie sicher für viele seiner deutschen Zeitgenossen - war das Entscheidende, inwieweit sich die serbische Regierung den österreichischen Forderungen beugen werde. Denn bezüglich der Haltung der anderen beteiligten Mächte war für den Gymnasialdirektor fraglos klar:

... muß Österreich zu Felde ziehen, dann hält Deutschland ihm die Nibelungentreue, und sei es gegen eine Welt von Feinden! (S. 7)


Nach der vom Kaiser am 1. August befohlenen und um 6 Uhr abends in Darmstadt bekannt gegebenen Mobilmachung eilten schon "mit dem Glockenschlag 6 Uhr" die ersten Kriegsfreiwilligen, um sich anzumelden. Gymnasialdirektor Kissinger zählt eine ganze Reihe weiterer Aktivitäten auf:


Der Großherzog Ernst Ludwig erlässt einen
Aufruf:

"An mein Hessenvolk!"

Für unser geliebtes Vaterland hat eine ernste Stunde geschlagen. Von Ost und West droht der Feind in frevelhaft uns aufgedrungenem Kriege in die Grenzen des Reiches einzudringen. Der Kaiser hat zu den Waffen gerufen.
Es gilt die höchsten und heiligsten Güter zu wahren. Ich vertraue auf die alte Hessentreue, die sich in schwerer Zeit stets bewährt hat und hoffe, daß mein Volk die großen Opfer an Gut und Blut freudig bringen wird, die jetzt von ihm gefordert werden. Meine innigsten Wünsche begleiten meine Hessen, die berufen sind, mit den Waffen in der Hand für Kaiser und Reich zu streiten.
Wem es aber nicht beschieden ist, in das Feld zu ziehen, der erfülle zu seinem Teil die großen Aufgaben, die den in der Heimat bleibenden obliegen.
Gottes Segen begleite unsere tapferen Streiter und bewahre unser teures Vaterland.

Darmstadt, den 2. August 1914. Ernst Ludwig


Unter der Überschrift: "Darmstadt an der Arbeit" schildert Direktor Kissinger, wie neben vielen anderen Organisationen das Rote Kreuz, die deutsche Turnerschaft, Rektor und Senat der Technischen Hochschule, die Freiwillige Sanitätskolonne, das Diakonissenhaus Elisabethenstift zu Aktivitäten aufriefen, deren Charakter im einzelnen nicht immer klar war.

Obwohl noch Schulferien waren, fühlten sich auch die Direktoren der Darmstädter Schulen veranlasst, vor allem die Schülerinnen und Schüler der oberen Klassen zu freiwilligen Hilfsarbeiten aufzufordern.

Prof. Kissinger schrieb als Leiter der Eleonorenschule:

Deutsche Mädchen heran zum Dienst für unser Vaterland!

Wir sind gewiß, daß auch unsere Schülerinnen in dieser ernsten Zeit für das Vaterland nach Kräften arbeiten wollen und fordern daher die Frauenschülerinnen und Schülerinnen der Oberklasse auf, sich sofort Waldstr. 19* zu melden.


*In der Waldstr. 19 befanden sich städtische Dienststellen, ab 1916 auch das Arbeitsamt.


Der Leiter des Großherzoglichen Ludwig - Georgs - Gymnasiums:

Liebe Schüler!

Mit Freude und Stolz habe ich gehört, daß alle unsere Oberprimaner, die dienstfähig sind, dem Vaterland mit der Waffe dienen wollen und daß manche jüngeren Schüler sich bereits in anderer Weise in den Dienst des Ganzen gestellt haben.
Das Einbringen der Ernte erfordert viele Hände. Wer stark genug ist, soll sich sofort auf dem großherzoglichen Kreisamt hier melden.
Ich bitte alle, die in der einen oder anderen Weise arbeiten wollen oder schon arbeiten, mir mündlich oder schriftlich Mitteilung zu machen oder durch die Eltern machen zu lassen.

Darmstadt, 3. August 1914. Dr. B. Mangold, geh. Schulrat.



Vormilitärische Erziehung - "Jung - Deutschland"

Jugendliche für das Militär zu begeistern, auf soldatische Tugenden einzustimmen, war das Ziel des 1911 in Berlin von Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz gegründeten "Jung - Deutschland - Bundes". Er strebte durch "planmäßige Leibesübungen die körperliche und sittliche Kräftigung der deutschen Jugend im vaterländischen Geist" an, und damit eine Art vormilitärischer Erziehung. Seit 1912 bestand in Darmstadt ein hessischer Landesverband; die unter Leitung des Bürgermeisters Mueller stehende Bezirksverwaltung Darmstadt erließ ebenfalls einen Aufruf:

Jungdeutschland heraus!

Unsere Jugend kann noch nicht gegen den Feind ins Feld rücken. Aber das Vaterland braucht sie, wenn die große Stunde gekommen ist. Freudig und tatkräftig wird unsere Jugend helfen, wo immer die Arbeitskräfte fehlen. Vor allem wird sie helfen, die Ernte heimzuholen, um damit die Pflege der Truppen und Zivilbevölkerung zu sichern. Jungdeutschland hat jetzt Gelegenheit zu zeigen, daß es nicht zum Spiel gegründet ist. - Wir brauchen Jungen und Mädchen in großer Zahl zu ernster, vaterländischer Arbeit.

Darmstadt, den 1. August 1914
Bezirksverwaltung Darmstadt "Jungdeutschland"
Mueller, Bürgermeister.




So ähnlich wie in diesem gestellten Bild von der "Darmstädter Jugendwehr" kann man sich die militärische Aktivierung der Jugend zu Kriegsbeginn vorstellen.
Der Radfahrer im Hintergrund zeigt das Schild "Auf nach Paris!"
(Foto: Stadtarchiv Darmstadt)



Es stellte sich allerdings bald heraus, dass so viele Erntearbeiter gar nicht nötig waren und außerdem die Schüler den vielen Arbeitslosen Gelegenheit zum Verdienst wegnahmen.
Für uns ist heute schwer vorstellbar, dass der Beginn dieses Krieges von der Bevölkerung in allen beteiligten Ländern nicht nur mit Zustimmung, sondern geradezu mit Begeisterung aufgenommen wurde. Prof. Kissinger stellte weitere Zeugnisse dafür aus Darmstadt im "Ersten Kriegsheft" zusammen:

Die weiteren Mobilmachungstage in der Residenz

Englands Kriegserklärung erbitterte die hiesige Bevölkerung sehr; das hatte man noch nicht erwartet. Die Heiner haben eine kräftige Aussprache. Sie machen nun reichlich ihrem Herzen Luft. Was dann kam, ward fast gleichgültig hingenommen. "Belgien! Das wird mit Frankreich schon die Kosten zahlen! Serbien und Montenegro; es ist zu lachen. Und Monaco gar; das hat noch gefehlt!" Als dann aber schließlich auch "der gelbe Schuft" im Osten sich wie ein Aasjäger heranmachte, da ward es wieder laut in der Rheinstraße, laut gegen - England! - Aber größer als der Zorn war die Begeisterung, das Pflichtbewusstsein. Wo unsere Truppen, wo die strammen Reservisten sich zeigten, galten ihnen Zurufe. Wo die Einquartierung kam - und davon wurden einzelne Stadtviertel reichlich bedacht - ward sie willig aufgenommen. Manche Familien holten sich die Leute von der Straße, wenn diese ratlos vor einem Hause standen, dessen Bewohner noch nicht zurückgekommen waren. Und wo der Landesfürst sich in der Öffentlichkeit sehen ließ, jubelten ihm die Krieger wie die Einwohner seiner Residenz begeistert zu.



Verabschiedung hessischer Soldaten am Bahnhof in Darmstadt durch Großherzogin Eleonore (Postkarte - StadtA Darmstadt)



Am Bahnhof aber drängten sich die Soldaten durchfahrender Truppenteile an das Fürstenpaar mit der gern erfüllten Bitte, doch die Grüße an ihre Lieben mit der Unterschrift des Großherzogs und der Großherzogin zu versenden. Ein Offenbacher soll dabei seinen Dank mit dem Rufe Ausdruck verliehen haben: "Herr Großherzog, jetzt aber muß Paris hessisch werden!"

Die Rüstungen gingen ihren Weg. Alles vollzog sich in einer Ruhe, die Eindruck machen mußte. Genau ausgerichtet, wie bei friedlicher Übung, standen die Geschütze, die Gepäckwagen, die so überaus zahlreichen Fahrzeuge der Feldbäckerei auf den von begeisterten Mengen umgebenen freien Plätzen. Auf dem Exert [dem Exerzierplatz] trafen immer wieder Scharen von Einberufenen ein, oft geleitet von aus der Heimat mitgebrachten Musikkapellen, zuweilen auch begleitet von Frauen und Kindern, die hier erst Abschied nehmen wollten. Überall und überall aber klangen die Marschlieder aus ihren Reihen, und freudig jauchzten die Zuschauer den so unerschrocken zum Kampfe gegen die ja fast täglich sich mehrende Zahl der uns den Krieg erklärenden Völker ziehenden zu. Haben wir es doch allmählich auf acht offene Gegner gebracht. Doch die Stimmung der Soldaten, die Entschlossenheit der Bevölkerung litt darunter nicht, wie u.a. die Inschriften der Eisenbahnzüge bewiesen: "Eilzug nach Paris!" "Hier werden noch Kriegserklärungen angenommen!" und viele andere.



Titelseite einer Karikaturensammlung; sie zeigt englische, französische und russische Generäle, die vor heranfliegenden deutschen Artilleriegeschossen sich ängstlich im Schützengraben ducken. Bildunterschrift: "Alle Vöglein sind schon da, alle Vöglein alle!" (Stadtarchiv Darmstadt)


Zeitweilig bemächtigte sich der Bevölkerung aber auch eine gewisse Aufregung. Es waren ja immer Russen hier als Studenten der Technischen Hochschule oder als kleine Geschäftsleute und Trödler im Altstadtviertel. Daß Spione eifrig an der Arbeit waren, ist festgestellt. Ob auch hier, entzieht sich unserer Kenntnis. Die Menge freilich wollte es wissen, daß es so sei. Jedenfalls nahm die Bevölkerung eine Unzahl für einige Zeit in "Schutzhaft", und mancher Heiner beteiligte sich an der Suche: "Ich waaß en Russ'!"

Auch an heiteren Zwischenfällen fehlte es nicht: Beim Auszug der Dragoner fällt ein Mann der Landstraße auf. Abgeschabt der Rock, zerfranst die Hose; den Knotenstock hat er in der Hand. Sonst besitzt er nichts. "Wo ist die Riederstraße?" "Was will der in der Riederstraße?" "Stellen will ich mich; ich hau drauf. Ich hab' schon manchen gehauen: hoffentlich stecken sie mich aber dies Mal nicht wieder dafür ein!" Fröhliches Gelächter antwortet dem Sprecher, und Rufe werden laut: "Schaffner, nehmt den Mann da mit, daß er zur Riederstraße und zu einem Feldzugsanzug komme, so Leut können wir brauchen!" Ja, man konnte sie alle brauchen, und alle wollten sich brauchen lassen, aus welchen Volksschichten sie auch kamen. Stolz erzählt ein Landwehrmann: "Wir waren gestern abend im Gewerkschaftshaus mit unserem Leutnant. War das ein Jubel dort!" Möge die Einigkeit als ein Erbe dieser Zeit uns auch für die Zukunft bleiben! In der Nacht von Montag auf Dienstag wurden die friedlichen Bürger aus der Ruhe geschreckt. Schüsse fielen, Kugeln pfiffen in die Höhe, Dachziegel und Fensterscheiben klirrten. "Ein Straßenkampf", so fürchteten ängstliche Gemüter. Man schoß nach einem Flieger oder einem Luftschiff, vielleicht aber auch nur nach einem Bild, das von dem Scheinwerfer der Festung Mainz in den Wolken über unserer Stadt hervorgerufen wurde; wurde doch dieselbe Erscheinung, in der man tatsächlich die Form eines Luftfahrzeuges sehen konnte, zwei Tage später in einer Gewitternacht auch von der Wache der Kriegsverpflegungsstation Kranichstein beobachtet, freilich sofort richtig erkannt. (S. 24/25)



Das Beladen von Feldapotheken der Firma Merck (Foto: Merck - Archiv)


Blick in eine Feldapotheke der Firma Merck (Foto: Merck - Archiv)



Die ersten französischen Kriegsgefangenen

Die Zeitung berichtet am 15. August: morgens um fünf Uhr kamen etwa 300 französische Kriegsgefangene aus Frankfurt auf dem Hauptbahnhof in Darmstadt an und wurden auf dem Truppenübungsplatz Griesheim untergebracht. Die Gefangenen, die sich aus den verschiedensten Truppenteilen und Altersklassen (es waren kaum erwachsene Burschen und Männer um die vierziger Jahre dabei) zusammensetzten, machten einen höchst unmilitärischen und verkommen, bemitleidenswürdigen Eindruck. Ungewaschen, schmutzig; jeder mit andersartigen, und viele mit völlig zerrissenen Stiefeln zogen die in ihren langen, umgeschlagenen Röcken und roten Pluderhosen seltsam genug wirkenden Gesellen ihres Weges. Einige waren verwundet und wurden entweder im Wagen nachgefahren oder folgten dem Zuge mit verbundenen Köpfen. Wegen Unterbringung der Gefangenen wird, wie aus einer kreisamtlichen Bekanntmachung hervorgeht, die Absperrung des Griesheimer Truppenübungsplatzes und Barackenlagers von heute an sehr streng gehandhabt. Das Barackenlager darf von der Querstraße aus und zwar nur mit einem Erlaubnisschein, welcher von der Kommandantur auszustellen ist, betreten werden. Sämtliche Straßen des Barackenlagers, einschließlich der Hauptlagerstraße, werden für den öffentlichen Verkehr seitens der Kommandantur gesperrt. Von der westlichen Lagerstraße aus darf das Barackenlager nicht betreten werden. Um jeglichen Zudrang zu den Barackenlagern zu vermeiden, wird die Kommandantur die Absperrung des Barackenlagers durch Pfosten mit scharfer Munition auf das strengste durchführen. Wie wir außerdem erfahren, sind die Baracken, in denen die Gefangenen untergebracht sind, mit Drahtzaun eingefriedigt. (S. 28)



Französische Kriegsgefangene in Griesheim (Foto: Stadtarchiv Darmstadt)


"Augusterlebnis"

War die Begeisterung wirklich so groß?
Das "Augusterlebnis" hatte zwei Seiten:


Notreifeprüfung:

Viele junge Männer, die sich als Kriegsfreiwillige meldeten, legten vorher noch ein schnelles Notabitur ab. Der deutsche Aufsatz des 1896 geborenen Konditorssohns Georg K. aus Dieburg hatte bei der „Notreifeprüfung“ am 22. Sept. 1914 das Thema:


Meine Absicht, Kriegsfreiwilliger zu werden.

Die schwere Zeit, in der wir jetzt leben, ruft jedem Deutschen zu: Hilf Deinem Vaterlande!
Mit dem ersten Mobilmachungstag hat unsere Schule geschlossen und ich war kaum zwei Tage zu Hause, so fühlte auch ich mich dazu bewogen, dem Rufe des bedrängten Vaterlandes Folge zu leisten. Gern wollte ich gleich als Kriegsfreiwilliger eintreten, aber da ich noch schulpflichtig bin, so gaben mir meine Eltern keine Erlaubnis, sondern machten mir den Vorschlag, mich während der Ferien in der Krankenpflege zu betätigen. Dieses tat ich dann auch, und am 4. August trat ich als freiwilliger Krankenpfleger im Krankenhaus zu Charlottenburg ein. Gern tat ich alle Arbeiten, die man mir gab. Als dann die ersten Verwundeten kamen, da wurde alles aufgeboten, um es unseren tapferen Soldaten recht behaglich zu machen. Aufmerksam hörte ich den Erzählungen der Verwundeten zu, und der Mut, mit dem diese Tapferen gefochten haben, übertrug sich auf mich, und ich hatte keine Ruhe mehr zu Hause, sondern wollte auch mit hinaus ins Feld, um gegen denn Feind zu kämpfen. Nach einiger Zeit hatte ich erfahren, daß ich auf unserer Schule das Notexamen machen kann und mich so meiner Schulpflicht entledigen kann. Nun gaben auch meine Eltern ihre Einwilligung, und ich ließ mich sofort auf Felddienstfähigkeit untersuchen.
Es blieb jetzt nur noch übrig, einen Truppenteil auszuwählen. Auf den Rat meines Vaters stellte ich mich bei der Fußartillerie in Spandau. Von früh um 8 Uhr bis 11 Uhr mußte ich warten, bis ich vorgelassen wurde. Es waren mit mir zusammen 40 Kriegsfreiwillige, die sich stellten. Der Inf. Arzt war aber sehr wählerisch und nahm von den 40 nur 8. Auch ich konnte mich zu diesen 8 Glücklichen rechnen! Wir wurden gleich dabehalten und eingekleidet, und erst am anderen Tage wurde uns Gelegenheit gegeben, uns unseren Eltern vorzustellen. Da unsere Ausbildung erst am 25. IX. beginnt, so habe ich noch reichlich Zeit mich einer Notprüfung zu unterziehen.

Ich hoffe, daß ich mit Gottes Hilfe mein Examen bestehe und daß dann mein Wunsch in Erfüllung geht, "mit Gott für König und Vaterland" am Kampfe gegen unsere Feinde teilnehmen zu dürfen.

(Hessisches Staatsarchiv Darmstadt G 53 Dieburg Nr. 122)


Großherzog Ernst Ludwig notierte in seinem Tagebuch etwas skeptischere Gefühle, als er sie öffentlich äußerte:
Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch sangen die Menschen aus vollem Halse vaterländische Lieder. Bei der Kriegserklärung war die Begeisterung einfach frenetisch. Von unserm Schlafzimmer aus konnte man das Singen in der ganzen Altstadt hören. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, diese singenden jungen Männerstimmen durch die Nacht zu hören und dabei zu wissen, sie ziehen ja alle in den Tod. Es war oft kaum auszuhalten.


(Aus: Ernst Ludwig, Großherzog von Hessen und bei Rhein: Erinnertes. Hrsg. von Eckhart G. Franz, Darmstadt 1983, S. 146)

Natürlich wussten die Menschen in den August - Tagen 1914 noch nicht, dass dieser Krieg vier lange Jahre dauern und etwa 10 Millionen Opfer fordern würde. Es wird neuerdings aber auch bezweifelt, dass es die einhellige begeisterte Zustimmung, von der die wissenschaftliche Literatur und die Schulbücher berichten, tatsächlich so gegeben hat.


Michael Stöcker hat in seiner Magisterarbeit an der Technischen Hochschule Darmstadt versucht, diese Behauptung am Beispiel Darmstadt genauer zu untersuchen. Dabei hat er das Bild "einhelliger" Begeisterung etwas relativieren können.

Es folgen Auszüge aus: Michael Stöcker: "Augusterlebnis 1914" in Darmstadt. Legende und Wirklichkeit. Darmstadt: Eduard Roether Verlag 1994.

Ängste und Trubel: Die Tage vor dem 2. August

"Das amtliche Presseorgan der Großherzoglich Hessischen Regierung, die »Darmstädter Zeitung« (sie erschien im Großherzoglichen Staatsverlag), wußte im Unterschied zum »Tagblatt« vom selben Wochenende nicht nur über die Reaktionen in der deutschen Hauptstadt, sondern auch über die Stimmung in Darmstadt zu berichten. Unter der Überschrift »Die Entscheidungsstunden« las man zwar auch hier von wogenden Menschenmengen, der Stimmungsbericht fiel jedoch nüchterner und weniger pathetisch aus als für Berlin. Bis in die späten Nachtstunden hinein wäre die Rheinstraße am Samstag abend [des 25. Juli 1914] »ungewöhnlich belebt von Passanten« gewesen, und die überall bemerkbare »elektrische Spannung« wäre nur zu begreiflich. Der »Hunger nach Extrablättern« habe fast Verkehrsstörungen verursacht, und ein »Sturm erhob sich jedesmal, wenn die Laufburschen mit ihren Extrablättern die Reihen durchliefen «.

Die »Darmstädter Zeitung« betonte einen grundlegenden Unterschied zwischen solchen Szenen der öffentlichen Unruhe und Anspannung und etwaiger Kriegsbegeisterung: »Doch vermochte sich das Gefühl für die Lage der Dinge immerhin nicht in spontaner Begeisterung aufzulösen, wie es in anderen Orten gelang. Im allgemeinen herrschte mehr ein still zuwartender Ton gegenüber den Ereignissen vor. Man referierte und diskutierte mehr und hielt sich in nüchterner Sachlichkeit.« Auch den darauffolgenden Sonntag »herrschte im Ganzen das gleiche Leben allgemeiner Interessiertheit. Dennoch war deutlich zu fühlen: Es war Sonntag; die Gemütlichkeit war noch nicht abhanden gekommen. Die Cafés waren dicht besetzt, aber man besprach sich ruhig und zuversichtlich oder las die Zeitung.«

Im Gegensatz zum Berlin - orientierten Stimmungsbild des »Tagblatts« wirken diese letzten Beschreibungen eher wie in bewußt nüchternem Ton verfaßt; beinahe so, als habe es in der Absicht der Zeitung gelegen, ein Bild der Normalität zu zeichnen und damit beruhigend auf die Bevölkerung einzuwirken - was freilich eine verzerrte Darstellung vermuten läßt. In diesem Sinne lesen sich auch die abschließenden Sätze des Artikels: »Das ist der beste Maßstab für das Bewußtsein, daß wir genau wissen, was in jedem Falle unsere Pflicht ist: Kopf und Herz nicht zu verlieren « Das liest sich anders als »Kriegsstimmung! Kriegsstimmung! «. (S. 25)




Soldaten des Großherzoglich Hessischen Leibregiments Nr. 115 marschieren zum Bahnhof in Darmstadt (Postkarte, StadtA Darmstadt)



»Feste druff! « (25 /26 Juli)

Der »Darmstädter Tägliche Anzeiger«, auflagenschwächer als »Tagblatt« und »Darmstädter Zeitung« und mit größerem Augenmerk auf lokale Ereignisse versuchte ebenfalls, die Atmosphäre dieses Wochenendes zu erfassen. [...] Erneut scheint es eher der begrenzte Krieg zwischen Serbien (»Serwe«) und Österreich (»Streicher«), auf den sich die »kriegsbegeisterten« Reaktionen in der Hauptsache konzentrierten. Zudem wurden die Beteiligten vom nationalliberalen »Anzeiger« in so gar nicht patriotisch - ehrenhaften Worten dargestellt: Nicht von einer jubelnden »Masse« las man, sondern vom »Geschrei« einer »Horde« Eine Wortwahl, die selbst im damaligen Sprachgebrauch ganz und gar keine positiven Assoziationen hervorgerufen haben dürfte und sicher nicht als Ausdruck besonderer Hochachtung gesehen werden konnte.

Zwar schob die Zeitung die begeisterten Hochrufe auf die Verbündeten und die patriotischen Kundgebungen in den Vordergrund - was sie vom Tonfall der »Darmstädter Zeitung« unterscheidet -, stellenweise gab sie allerdings auch recht kritische Meinungen wieder: »Da und dort werden in den Wirtschaften weniger begeisterte Stimmen laut: »Warum soll wir uns wegen der Slawinerwirtschaft da unten die Knochen kaputt schießen lassen? Die, die jetzt am ärgsten schreien, das sind die, die selber daheim bleiben,« sagt ein wackerer Bürger, und sein Wort stößt keineswegs auf Widerspruch.« Deutlich steht diese Äußerung im Gegensatz zu den bisherigen Eindrücken, indem sie in ihrer Volkstümlichkeit durchaus die Realität von Bündnisverpflichtung und Krieg erfaßte. Sie belegt auch, daß in den Augen einiger Menschen der Krieg zwischen Österreich und Serbien nicht unbedingt als Angelegenheit angesehen wurde, an der man sich selber beteiligen sollte - trotz Bündnis und »Nibelungentreue«. (S. 26)



Abholen der Standarte des Garde Dragoner - Regiments am ersten Mobilmachungstage vom Residenzschloß in Darmstadt. (Bild: Stadtarchiv Darmstadt)


»Wie in einem Alp und Spuk« (1./2. August 1914)

Die reguläre »Darmstädter Zeitung« berichtete [am 3. August 1914] bereits von feldmarschmäßig ausgerüsteten Kavallerietruppen, die, »froh umjubelt von der Menge«, »am ersten Mobilmachungstag ... mit klingendem Spiel durch die Rheinstraße (zogen), um im Schloß die Standarte abzuholen«. Das beherrschende Element des Straßenbildes seien »die jungen Leute, die zur Stammrolle eilen, und die Gruppen Diskutierender an den Anschlagwänden und Straßenecken« gewesen. Von der eigentlichen Mobilmachung merke man im Grunde wenig. Sie vollziehe sich »wie in unterirdischen Minenlagern ... doch furchtbar drohend und allgegenwärtig.« Im ganzen walte »über dem Treiben in den Straßen eine geradezu klug anmutende, gleichmäßige Ruhe. Wie gespannt aber noch immer aller Nerven sind, das zeigt sich, als ein plötzliches Gerücht sich verbreitete von einer Kriegserklärung Japans an Rußland«. Dieses habe sogleich wieder eine »zündende, belebende, fast verwirrende« Wirkung gehabt, was den Verfasser schließen ließ: »Jedenfalls merkt man nichts von der gegenwirkenden Abspannung und leichten Apathie, die sich nach solchen ausgestandenen Stunden der Überreizung und Spannung ausgleichend einzustellen pflegen.« Um Mißverständnissen vorzubeugen, setzte er hinzu, daß »solche notwendige seelische Veränderung ... aber keineswegs mit Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Ereignissen zu verwechseln« sei. Davon wisse man nichts, im Gegenteil: »Unser ganzes Herz, unsere Zuversicht und unser Mitleiden gehören den Truppen und dem Schicksal unseres Reiches.

«Am Rande wandte der Beobachter seinen Blick auf die Frauen und Mädchen, deren Sonntagstoiletten ihm »ein wenig freudig belebend fürs Auge« erschien. In ihren Reihen bemerkte er auch »manch verstohlen tränenvolles Auge«. So beiläufig diese Bemerkung zunächst erscheint, sie sagt doch etwas über ein ebenfalls anzutreffendes Element im Stimmungsbild aus. Denn wenn allein die Aufmachung der Frauen und Mädchen »ein wenig freudig belebende« Akzente zu setzen vermochte, so läßt dies ein Gefühl allgemeiner Bedrücktheit und Niedergeschlagenheit vermuten, das in solchen Äußerlichkeiten Trost suchte. Für diese Sichtweise spricht auch das Weinen der Frauen. Ihnen wurde Ehemann oder Sohn genommen, den Familien der Ernährer und Familienvater. Sogar die euphorische Berichterstattung des »Täglichen Anzeigers« [3. August 1914] bemerkte: »Viele Augen, und nicht nur Frauenaugen, waren mit Tränen gefüllt.«

Darüber hinaus führt der anfangs zitierte Stimmungsbericht der konservativ - monarchischen »Darmstädter Zeitung« dem Historiker die Vielfarbigkeit des Stimmungsbildes bei Kriegsausbruch vor Augen. Zweifellos gab es Jubel und Begeisterung unter den Menschen. Aber eben nicht nur! Der Bericht macht auch auf andere Stimmungen aufmerksam: Die Angst, die Bedrückung und der Schmerz der Frauen (die Kirchen waren überfüllt in diesen Tagen!), die Nervosität der Diskutierenden, das Alptraumhaft - Unwirkliche der Situation, die Ernüchterung; die Gleichzeitigkeit von Anspannung, Ernst und Beruhigung und Entladungen in patriotischen Ausbrüchen.

Wie die Schilderungen außerdem zeigen, war der Hurra - Patriotismus der Straße oft an konkrete und faßbare Anlässe gebunden: Einrückende Truppen, Ansprachen, Bekanntgabe des Mobilmachungsbefehls. Das erlaubt folgende Überlegung: Die Ausbrüche bedurften - neben der unfaßbar - abstrakten Tatsache des Kriegsbeginns - oft des auslösenden Moments der (mit Musikkapelle!) marschierenden Soldaten oder patriotischer Reden. Vielleicht könnte man so sagen: Die Entladung der Menschen in Jubel und Gesang benötigte einen äußeren - und zum gewissen Grade ja inszenierten - Orientierungspunkt, nach dem sie sich ausrichten konnte und der diese motivierte. So betrachtet, ließen sich die öffentlichen Manifestationen wenigstens zum Teil auch als von Außen angeregte Reaktionen und weniger als Ausdruck einer wirklichen inneren Kriegsbegeisterung der Menschen interpretieren. (S. 49 f.)

Versuch einer Deutung der Ereignisse

Nicht der abstrakten Idee des Krieges werden Ovationen entgegengebracht, sondern konkreten militärischen oder obrigkeitlichen Manifestationen.

Motivation für das Zusammenlaufen der Menschen im August 1914 mußte also nicht zwangsläufig immer ein aus dem eignen, inneren Antrieb der Menschen erwachender Drang sein, gemeinschaftlich die begeisterte Zustimmung zu Krieg oder nationaler Einheit zu bekunden. Nicht nur die Bilder lassen erkennen, sondern auch die Presseschilderungen wiesen darauf hin, daß neben dem Kriegsausbruch selbst meist ein konkreter äußerer Anlaß vorhanden sein mußte, durch den die Reaktionen der Menschen ausgelöst wurden. Mit einem ersten Blick auf die Ereignisse kann man es sich vielleicht zunächst so vorstellen: Die beunruhigenden, aber nicht greifbaren Nachrichten und Gerüchte um Ultimatum, Kriegsgefahr und Mobilmachung trieben die Menschen auf der Suche nach den aktuellsten Mitteilungen auf die Straße. Man fand sich zusammen, tauschte Informationen aus, diskutierte. Dann betrat ein Redner, ein Repräsentant des Herrscherhauses oder das Militär die Bühne des Geschehens und wurde zum Auslöser und Zielpunkt patriotischer Ovationen. Der Jubel hatte somit einen faßbaren, mitunter in besonderer Weise personalisierten Orientierungspunkt. Er galt nicht der Idee eines Krieges, der in seiner Totalität ohnehin menschliches Begreifen übersteigt, sondern er war geknüpft an das konkrete Erscheinen der neuesten Meldungen, des Großherzogs oder der singenden Truppen. In diesem Sinne lassen sich die Reaktionen wie auch schon das Zusammenkommen der Menge viel weniger als Ausdruck von überschwenglichem Nationalismus und Patriotismus oder von freudiger Begeisterung und euphorischein Optimismus sehen. Seine Ängste und Zweifel, seine Verunsicherung und Hilflosigkeit, seine »Realitätsinsuffizienz« (Hermann Broch) waren es, die das Individuum auf der Suche nach Befreiung davon auf die Straße trieben und Anlehnung suchen ließen an Repräsentanten der Obrigkeit.



Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen gibt anlässlich einer Huldigung seiner Darmstädter Bevölkerung während dem Abmarsch des Garde - Dragoner - Regiments Nr. 23 die Ermahnung: Nicht nur im Lied, sondern auch in der Tat tapfer zum lieben Vaterland zu halten (den 3. August 1914). (Text auf einer Postkarte 1914; Stadtarchiv Darmstadt)


Mit Sigmund Freud ließe sich dieser Zustand auch individual- und massenpsychologisch deuten: Nämlich als ein Zustand der »Vatersehnsucht«. Das Suchen nach Anlehnung an eine Vater - Figur käme dem von Freud beschriebenen Vorgang der Regression gleich: Ein Zurückfallen des erwachsenen Individuums in die Hilflosigkeit des Kindes. Das Individuum, durch die Schockwirkung des Krieges verunsichert, verängstigt, desorientiert und haltlos, fällt in der eigenen psychischen Entwicklung zurück: Es regrediert, es ersehnt Hilfe, Halt und Schutz bei einem Vater - bei Freud gleichbedeutend mit: Führer, Oberhaupt -, dessen Führung es sich bereitwillig unterstellt. Solche Vater - Figuren gab es in den Tagen des Kriegsausbruchs viele: Der Kaiser in Berlin (der »Herrgott Kaiser«, so Frau Spahn im Interview), der Großherzog in Darmstadt: Beides >Landesväter< Über allem gar: Der christliche Gott selbst - wie berichtet waren die Kirchen in diesen Tagen überfüllt. Nach Freud ist dieses »Motiv der Vatersehnsucht identisch mit dem Bedürfnis nach Schutz gegen die Folgen der menschlichen Ohnmacht«. Auch Ohnmacht war ein Empfinden, das in vielen Berichten der Zeitzeugen immer wieder zum Ausdruck kam: Sie sprachen von einem »Sich - fügen«, »Sich - abfinden«, einem »Hinnehmen«, von Resignation.

Hinzufügen läßt sich noch, was bereits zuvor behandelt wurde: Daß sich nämlich das Absingen von Liedern, das Ausrufen patriotischer Parolen und ähnliche Erscheinungen auch als Ausdruck von individuellen Ängsten sehen lassen, und daß Aspekte wie der Abschied von den Angehörigen und das Zusprechen von Mut ebenfalls ins Gewicht fallen. Abgesehen von diesen Versuchen einer Umdeutung zeigen längst nicht alle Fotografien Jubel, Gesang, hochgereckte Arme, fliegende Hüte oder ähnliche Reaktionen Mitunter vermitteln sie den Eindruck von erregtem Durcheinander, großer Nervosität und banger Erwartung. Auf vielen Bildern ist eine große Anzahl umherrennender Kinder zu erkennen. Und wagt man es schließlich, die Gesichter der Menschen auf diesen Bildern zu deuten, so sieht man hier kaum ausgelassene, singende oder fröhliche Blicke. Vielfach trifft man auf ernste, fast ängstliche, interessierte, mitunter recht grimmige und besorgte Mienen.

Auch die Abfahrt der Soldaten an die Kriegsschauplätze wurde in unzähligen Gruppenfotos vom Bahnhof festgehalten. Sie sind zwar nicht exakt datiert, die Zuordnung der Aufnahmen zum zeitlichen Bereich des >Augusterlebnisses< scheint jedoch in Anlehnung an die Angaben des Stadtarchivs zulässig. Während nämlich in der Historiographie zum >Augusterlebnis< immer wieder Abbildungen mit ausgelassenen, aus Zugwaggons herausjubelnden Mannschaften anzutreffen sind, sprechen die Gesichter auf diesen Fotografien eine andere Sprache: Da mag man allenfalls noch einen gewissen Stolz erkennen. Der Rest ist Ernst, Gefaßtheit, und manch wehmütiger Blick begegnet einem hier. (S. 157 - 159)