Lille unter deutscher Besatzung
Am 13. Oktober 1914 kapitulierte das belagerte Lille nach einem furchtbaren Artilleriebeschuss, bei dem Hunderte von Häusern zerstört wurden. Vier Jahre lang war Lille von den Deutschen besetzt, bis am 17. Oktober 1918 die Armee des englischen Generals Birdwood die Stadt befreite. Militärparaden Parades militaires
Um die deutsche Militärmacht zur Schau zu stellen wurden regelmäßig in den besetzten Städten Paraden abgehalten. In Lille war jeden Tag um 11.00 Uhr Wachablösung. Die bayrische Einheit marschierte dann unter dem Klang von Pfeifen und Trommeln die Rue Nationale herunter und machte auf der zentralen Grande Place zackige Marsch- und Präsentierübungen. Dies alles fand genau zu Füßen der Statue der "Göttin" statt, die 1845 als Symbol für den heroischen Widerstand der Stadt im Jahr 1792 gegen ein österreichisches Belagerungsheer errichtet worden war. Diese alltägliche Demonstration provozierte den Unmut der Bevölkerung Lilles. Offizielle Besuche waren ebenfalls Anlass von Militärparaden, wie zum Beispiel der Besuch des Kronprinzen von Bayern 1916 oder des deutschen Kaisers Wilhelm II. 1918.
(Katalog "Le Nord en guerre" S. 52) Der Widerstand - La resistance
Wenn manche auch versuchten, von den Umständen zu profitieren und sich durch den Schwarzmarkt zu bereichern, so bildeten diese doch die Ausnahme. Die Bevölkerung blieb in der Mehrheit deutschfeindlich und drückte ihre Abneigung, die allerdings auch durch Resignation gekennzeichnet wurde, in kleinen Gesten aus: Nationalfarben wurden getragen, den deutschen Offizieren wurde der Gruß verweigert und Telefon- und Telegraphenlinien wurden gekappt. Es gab wenige organisierte Widerstandsnetze.
Eines davon wurde von dem Weinhändler Eugène Jacquet geleitet, einem sozialistischen Freimaurer und Pazifisten. Mit seinen Freunden Ernest Deconninck, Georges Maertens und dem Belgier Sylvère Verhulst leisten sie Fluchthilfe und schmuggeln Informationen über die Besatzungsmacht an französische und englische Behörden. Nachdem sie einem von den Deutschen abgeschossenen englischen Piloten zur Fluchtverholfen haben, werden sie an die Deutschen verraten. Mehr als 200 Personen werden verhaftet, Jacquet und seine Freunde am 21. September 1915 hingerichtet. Abschiedsbrief der in Lille erschossenen Widerstandskämpfer. (Archives départementales du Nord) Äbersetzung:
22. September 1915 - 6 Uhr morgens
Liebe Freunde, Kameraden! Wir sind am Ziel angelangt. In einigen Augenblicken wird man uns erschießen. Wir werden tapfer sterben, als gute Franzosen, als tapfere Belgier. Aufrecht! Die Augen unverbunden, die Hände nicht gefesselt. An alle. Auf Wiedersehen und Mut. Es lebe die Republik. Es lebe Frankreich. Soll meinen Freund RD gegeben werden. Die illegale Presse - La presse clandestine
Seit Oktober 1914 wurden die alliierten Nachrichten, welche vom Eiffelturm oder der englischen Station Poldhu gefunkt wurden, vom Abbé Pinte, der Chemielehrer am Technischen Institut in Roubaix war, und dem ebendort tätigen Verwalter Firmin Dubar aufgefangen und mündlich weitergegeben. Seit Januar 1915 wurden diese Nachrichten von ihnen und dem Apotheker Joseph Willot gedruckt. "Le journal des occupés ... inoccupés" hieß diese Zeitung ("Die Zeitung der Besetzten ... die unbesetzt sind".) Die Zeitung änderte wiederholt ihren Namen: erst in "La Patience" (Die Geduld), 1916 in "L'oiseau de France" ( "Der Vogel von Frankreich"). Nach der Verhaftung des Abbé Pinte im Oktober 1916 änderte Willot ihren Namen in "La voix de la Patrie" ( "Die Stimme des Vaterlandes") mit der Absicht den beschuldigten Pater Pinte zu entlasten. Im Dezember 1916 wurden jedoch er, seine Frau und die anderen Mitarbeiter verhaftet. Seine Frau verstarb noch 1916 im Gefängnis, Willot 1919 an den Folgen seiner Gefangenschaft.
(Katalog "Le Nord en guerre" S. 38) Léon Trulin - hingerichtet am 8. November 1915 Bekanntmachung über Vollzug des Todesurteils gegen Leon Trulin. (Archives départementales du Nord)
Léon Trulin, gebürtig aus Ath in Belgien, wohnte seit 1902 in Lille. Mit 18 Jahren ging er 1915 heimlich nach Holland und von da aus nach England, wo er sich für den englischen Geheimdienst anwerben ließ. Er sollte berichten über: Zahl und Größe der Truppenbewegungen, die Luftwaffe, Ort und Lage von Artilleriestellungen, von Munitionsdepots, Lage der Schützengräben...
Elektrischer Hochspannungszaun an der Grenze des besetzten Frankreich zu Holland.
Von den Deutschen beschattet wurde er am 3. Oktober 1915 verhaftet, als er gerade wieder einmal mit seinen ebenso jungen Helfern die von den Deutschen elektrisch gesicherte Grenze nach den Niederlanden zu überqueren versuchte. Sie wurden in Anvers eingesperrt. Am 5. November wurde er vom Deutschen Militärgericht wegen Spionage zum Tode verurteilt und am 8. November 1915 in Lilie dafür erschossen, dass er Widerstand geleistet hatte.
(Katalog "Le Nord en guerre" S. 42) Die Zwangsarbeit - Le travail forcé
Die Deutschen, die 1914 eine enorme Mobilmachung betrieben hatten, schickten von der Front 740.000 Arbeiter zurück in die Fabriken, zum Nachteil der kämpfenden Einheiten um die Produktion aufrecht zu erhalten. Deutsche Frauen und Kinder mussten ebenfalls mitwirken für den Krieg und in den Fabriken arbeiten. Da Deutschland im Gegensatz zu Frankreich und Groß- Britannien nicht im Besitz von riesigen Arbeitskraftreserven war, sah es sich gezwungen, die Zivilbevölkerung der besetzten Länder einzubeziehen. Man führte anfangs nur freiwillige Arbeit ein und schlug vor, die zivilen Arbeiter gegen Lohn einzustellen (mit zusätzlichen Vorteilen wie freie Unterkunft und Bekleidung). Es gab jedoch nur wenige Freiwillige. Die Deutschen entschieden sich daraufhin für die Zwangseinbeziehung von Arbeitskräften. Auf Befehl des Großen Hauptquartiers wurden alle mobilisierungsfähigen Männer zwischen 17 und 55 Jahren als Kriegsgefangene betrachtet und zur Zwangsarbeit verpflichtet ( bei Verweigerung drohten ihnen drei Jahre Gefängnis und eine hohe Geldstrafe). Diese Männer wurden zuerst nur für bestimmte Aufgabenbereiche auf begrenzte Zeit einberufen, dann jedoch zur Dauerbeschäftigung. Nacheinander wurden sie aufgerufen für landwirtschaftliche Arbeiten, Arbeiten in Fabriken, Festungsarbeit, Maurerarbeit und zur Reparaturarbeiten von Eisenbahnschienen. Manchmal erfolgten diese Arbeiten an der Front. Man zwang sie eine "freiwillige" Bereitschaftserklärung zur Arbeit zu unterschreiben. Die, die sich weigerten, wurden gezwungen in Strafeinheiten zu gehen und mussten ein rotes Band am Arm tragen. Frauen wurden gleicherweise zu verschiedene Arbeiten im Haushalt, in Fabriken oder in der Landwirtschaft gezwungen. Die aus dem Frontbereich Evakuierten wurden in landwirtschaftliche oder handwerkliche Betriebe im besetzten Frankreich oder in Deutschland eingegliedert.
(Katalog "Le Nord en guerre" S.33/4) Geiselnahme und Verschleppung
Mit Hilfe der Geiseln sollte die Bevölkerung ruhig gestellt werden. Sie wurden ausgewählt aus der Gruppe der Notabeln und der Abgeordneten. In Lille wurden am Anfang der Besatzung 60 Geiseln vom Bürgermeister und dem Präfekten ausgesucht. Verteilt in 6 Gruppen hatten sie der Reihe nach in der Festung zu übernachten. Im Falle von Gesetzesbrüchen wurden eine Reihe von Strafmaßnahmen der Bevölkerung des besetzten Landes auferlegt, wie die Verschleppung der Zivilbevölkerung in deutsche Lager, wo sie nur eine geringe Verpflegung erhielten. Ebenfalls wurden sie zu härtester Feld- und Industriearbeit genötigt, die Frauen zum Küchendienst. Als französische Truppen 1914 im Elsass einmarschierten, nahmen sie wichtige deutsche kaiserliche Beamte und ihre Familien aus den Besatzungszonen und verschleppten sie in das unbesetzte Frankreich. Während der Kriegsdauer gab es Gespräche zwischen beiden Regierungen um für das Schicksal der gefangenen Deutschen eine Lösung zu finden. Um Druck auf die französische Regierung auszuüben, wurden die Deportationen von zivilen Geiseln in besetzten Gebieten 1916 und 1918 beschlossen. Die Geiseln wurden unter den Notabeln (Honoratioren) der Städte ausgesucht (Abgeordnete, Industrielle, Beamte, Rechtsanwälte, Medizinprofessoren...). Die 300 Deportierten von 1916 aus Nordfrankreich kamen ins Lager von Holzminden in Deutschland. Dieses Zivilgefangenenlager wurde außerhalb der Stadt für 10.000 Leute errichtet. Schon ab 1914 wurden Gefangene aus feindlichen Ländern dort interniert ebenso wie unerwünschte Deutsche. Die Lebensverhältnisse waren erträglich, obwohl die Gefangenen an Isolation, Mangel und leichten Strafen litten. Die Disziplin und die Strafen waren sehr strikt. Äbliche Strafe: "der Mast". Der Mann wurde zwei Stunden lang am Mast festgebunden, ohne zu essen zu bekommen. Diese ersten Geiseln wurden 1917 in ihre Länder zurückgeschickt. Anders verlief die zweite Deportation von 1.000 Gefangenen im Juli 1918. Die Frauen, welche ebenfalls nach Holzminden kamen, waren schrecklichen, verschlechterten Bedingungen ausgesetzt: Hygienemangel, unendliches Stehen im Regen beim Appell und Versorgungsmangel. Die Männer kamen nach Litauen, wo es ihnen ebenfalls schlecht erging: Hunger, Trinkwassermangel und Demütigung waren sie ausgesetzt. 26 Geiseln starben in Litauen an Kälte, Hunger, Mangel an Pflege; zum Teil wurden sie auch von Ratten angefallen.
(Katalog "Le Nord en guerre" S.34-37) Das Feldgericht tagt - Die "Liller Kriegszeitung" Aus der Perspektive der Besatzungsmacht schildert die "Liller Kriegszeitung" die deutsche Militärgerichtsbarkeit:
Trotzdem die weiteste Öffentlichkeit Zutritt hat, bin ich der einzige Zuhörer.
Durch eine große, offene Schiebetuer ist der Richtersaal von dem Zuschauerraum getrennt. Das Feldgericht tagt in dem stattlichen Gebäude der seit Oktober 1914 schweigenden nordfranzösischen Revue "Le Nouvelliste". Der übliche grüne Tisch ist hier mit einer schweren Brokatdecke überdeckt. Die Wände zeigen ein pompejanisches Rot und Grecmuster als Leistenverzierung. Ein paar Fahrpläne, die an den Wänden angeheftet sind, verwischen etwas den prunkhaften Eindruck, den der hohe Spiegel, die kostbaren Bücherschränke, die Holzschnitzereien hervorrufen. Die Urlauberzüge, die darauf angegeben sind, kommen freilich für die armen Sünder, die hier abgeurteilt werden, nicht in Betracht. An dem großen Mitteltisch sitzen die feldgrauen Richter: der Oberstleutnant als Vorsitzender, zwei Hauptleute, ein eisgrauer Oberleutnant vom Landsturm, ein frischgebackener Leutnant, der Kriegsgerichtsrat und sein Sekretär. Am Fenster ein Tischchen für den Sachverständigen, am Ofen ein zweites für den als Verteidiger kommandierten Leutnant - der zufällig Jurist ist und einen berühmten Rechtsanwaltsnamen führt. Zweite Verhandlung. Die Anklage lautet auf Kriegsverrat. Spionage. Ein siebzehnjähriger Bursche, in Friedenszeiten Kohlenträger, seit die Deutschen die Stadt im Besitz haben, arbeitet er als Armierungsarbeiter. In dem stumpfsinnigen Gesicht sitzen ein paar treuherzige Augen. Man ist gleich von Anfang an geneigt, mit dem jungen Menschen zu sympathisieren. Er sieht so aus, als ob er kaum wisse, wie er zu der ganzen Sache gekommen sei. Er trägt einen schwarzen Kittel, ein rotes Halstuch, die weiten Hosen stecken in hohen Schnürstiefeln. Unablässig dreht er seine Mütze in den Händen. Er erinnert an ein in die Enge getriebenes Wild. Seine Augen fragen nur: "Was werdet ihr mit mir anfangen"" Er schluckt und schluckt, die Halsmuskeln bewegen sich immerzu. Der erste Zeuge ist ein semmelblonder, blauäugiger Franzose, der sich ein Geschäft daraus zu machen scheint, Fälle von Spionage aufzudecken. In seinem für mich unangenehmen Gesicht, steht sein Gewerbe geschrieben. Er lebt von Gelegenheitsarbeit. So hat er sich in demselben Abschnitt als Armierungsarbeiter einstellen lassen, in dem der von ihm jetzt Angezeigte beschäftigt war. Er teilte auch dessen Wohnung, hielt Kameradschaft mit ihm, ging auf seinen Plan ein, Zeichnungen von Schützengräben, ihrer Lage, der Art der Eindeckung anzufertigen. Liebhaber fanden sich gewiss dafür. ... Und sind diese Zeichnungen, die nur beim Schein des Talglichtes entstehen, auch plump und unbeholfen, es gibt in dem besetzten Gebiet viele geheime Stellen, die alles Material sammeln ... und der stumpfsinnige treuherzige Bursche entwickelt sich zum talentvollen Spion. Nur reicht seine Gerissenheit nicht aus, um den guten Kameraden zu durchschauen, der an ihm zum Ankläger wird, sobald er die Beweisstücke in Händen hat. Ein trübes Bild. Wir blicken erzürnt in die vor uns aufgedeckten Machenschaften eines Gegners, der uns nie mit der Waffe wird bezwingen können - aber fast noch mehr widert uns die aalglatte Art des gefälligen Verräters an. Das Gesetz, kann nicht umgangen werden: seiner verdienten Freiheitsstrafe wird der armselige Spion nicht entgehen, trotz der eindringlichen Verteidigungsrede. Dritte Verhandlung. Wegen verbotenen Waffenbesitzes und Nichtauslieferns zweier Fahrräder ist der Estaminetbesitzer und Bäcker B. angeklagt. Der Mann, dreißig Jahre alt, macht einen kläglichen Eindruck. Von Rheumatismus krumm gezogen, hager, klein, sehr schmuddelig. Wasser und Seife verachtet er anscheinend. Das Gesicht schmal, eingefallen, die Augen voll Todesangst, die Hände zittern vor Erregung. Er weiß, auf das Verbergen von Waffen steht Todesstrafe. Nur in besonders milden Fällen wird die Strafe in Zuchthaus nicht unter fünf Jahren umgewandelt. Er zieht ein unbeschreiblich schmutziges Taschentuch heraus, putzt sich die Nase, trocknet sich die Tränen ab. Auf die Frage, warum er der in der Proklamation festgesetzten Forderung nicht Folge geleistet habe, erwidert er: Ach, er habe ja weder lesen noch schreiben gelernt ... Wenn er die Proklamation nicht gelesen, warum er dann die Waffe, im Kamin versteckt habe" ... Aus Angst, man könne ihm den Revolver stehlen! Die Zeugin Eugenie, Mieterin in seinem Hause, die ihn angezeigt hat und offenbar nicht die freundschaftlichsten Gefühle für ihn hegt, wird vernommen. Schönheit kann man ihr nicht vorwerfen, dafür trägt sie aber um so mehr Schmucksachen: Brosche, Kette, noch eine Brosche, Ringe, Armbanduhr, Ohrringe und der Puder ist nicht gespart. Ein Mädchen aus dem Volke. Ohne Hut, mit schwarzem Umschlagtuch; aber gutsitzende Einsatzstiefel. Ihr Beruf: Näherin. Wie alt? Vierundzwanzig! Da können die Richter, die sie gleich mir auf 42 schätzen, ein Lächeln doch nicht unterdrücken. Das Bild, das sie und die nachfolgenden Zeugen entrollen, ist eines Maupassant würdig. In seinem Vorstadthäuschen hat der Angeklagte ein ganz gefährliches Hehlernest verborgen gehabt und es war ein Treffer, ihn erwischt zu haben. Der Kriegsgerichtsrat stellt seinen Strafantrag. Der Dolmetscher übersetzt ihn: Zwölf Jahre Zuchthaus. Und im selben Augenblick sinkt der Franzose in die Knie und bittet um Gnade. Er weint laut. Der Verteidiger erhält das Wort. Er spricht ausgezeichnet und schlägt vor, die Strafe unter Ansehung mildernder Umstände auf das Mindestmass festzusetzen. Der Beschuldigte kann kein Wort davon verstehen - aber der Ton schon tröstet ihn; er schluchzt nur noch leise. Auf der Diele steht wartend des Angeklagten Geliebte, mit der er seit sechs Jahren zusammenlebt. Sie sieht sauber und energisch aus. Sie hat das Urteil vernommen. Nun ruft sie ihm zu: "Mut, nicht weinen, du bist ja nicht zum Tode verurteilt, also was willst du? Die Jahre gehen vorüber." Er weint immer heftiger. Das fürchterliche Taschentuch ist schon zum Auswinden nass. Da wendet sich die Geliebte an Eugenie: "Hast du ein Taschentuch, Eugenie, sieh nur, wie seines ausschaut!" Und Eugenie entlastet ihr Gewissen etwas, zieht aus ihrer Ledertasche ein ganz frisches Tüchlein, und die Frau steckt es ihm zu und außerdem ein paar Geldscheine. "Heikel sind die Liller nicht" - wie die "Liller Kriegszeitung" über die Franzosen berichtete Alle 14 Tage erschien die "Liller Kriegszeitung" von deutschen Redakteuren für deutsche Soldaten verfasst, gesetzt und gedruckt auf den französischen Maschinen der von der Besatzungsmacht verbotenen Zeitung "Echo du Nord". Hier folgen einige ausgewählte Artikel, aus denen die Haltung der Deutschen gegenüber den Franzosen hervorgeht:
Wir deutschen Frauen haben in diesem Kriegsjahr natürlich nur wenig Sinn für die Entwicklung der Mode gehabt. Wir sahen nur, ach so oft, klopfenden Herzens, wie sich für viele unserer Schwestern das Feldgrau in, Schwarz wandelte. Aber ganz selbstverständlich nahmen wir die zum Praktischen führenden Fortschritte an. Und so zeigte denn auch mein Reisekleid die wieder Mode gewordene weite Rockform. Und auf dem Wege zur Schriftleitung der Liller Kriegszeitung genoss ich still lächelnd die kleine Freude, dass zwei Lillerinnen im knappsitzenden Sommerkleid von 1914 sich heimlich anstießen und, meinen Rock musternd, mit einander wisperten: "Mais regardez donc cette jupe large!" Und es gab darauf ein überlegenes, kaum merkliches Achselzucken und die Antwort: "C'est un peu allemand, à ce qu'il parait!
"Neulich vermisste ich in meinem Zimmer einige deutsche Zeitungen, unter denen sich auch eine Modebeilage befand. Nachdem ich vergeblich gesucht hatte, fragte ich meine Haushälterin nach dem Verbleib, der Blätter. Da gestand sie mir verlegen den für Französinnen bezeichnenden Vorfall: Sie hatte das Modeblatt zufällig entdeckt und es einer Freundin gezeigt. Sie konnten sich gar nicht satt sehen an den modernen Kleidern. Die Freundin bat flehentlich, ihr das Blatt für einen Tag zu leihen. Sie habe sich beschwatzen lassen, und nun mache das Blatt die Runde in Lille, denn die Dame, bei der ihre Freundin in Stellung sei, habe das Blatt auch gesehen und wäre in ihrer Aufregung sofort zu einer Bekannten gelaufen, um ihr die weiten Röcke zu zeigen. Dann seien die beiden zu einer dritten Dame gegangen ... und nun wisse. sie gar nicht, wie und wo das geendet habe. Aber sie würde Sorge tragen, dass ich das Blatt zurück erhielte. Ich leistete großmütig Verzicht: Frauen müssen einander helfen. Die hiesigen Modegeschäfte, die seit dem 12. Oktober 1914 ohne jede Verbindung mit ihren Pariser Häusern sind, haben in ihren Schaufenstern natürlich nur vorjährige Kleider ausgestellt ... Ach, die Schaufenster von Lille! Sieht man von den wenigen deutschen Geschäften ab, die die Offiziere und Mannschaften der Liller Besatzung mit Stiefeln, Zigarren, Wäsche, Wein, Briefpapier, Wurst und Hosenträgern versorgen, so stößt das Auge auf bösartigen Schund. Vor allem macht sich der Rückstand im Kunstgewerbe bemerkbar. Solche Fülle von verzwirbelten Vasen mit Schnörkelblumen und stilisierten Unmöglichkeiten, Gussbronze, roh ausgeführten Porzellanfiguren, grell bemaltem Wandschmuck habe ich noch nie auf einem Platze vereint gesehen. Man kommt zu der Annahme, dass ganz Europa die trüben Fluten vergangener Geschmacksverirrungen nach dem unglücklichen Lille gewälzt habe. Hat man den dringenden Wunsch, irgendeine kleine Aufmerksamkeit nach Hause zu schicken, dann wird die Wahl schwer. Es kommen höchstens die Spitzengeschäfte in Betracht. Aber sollen wir, wenn wir handgearbeitete Spitzen erstehen wollen, den Verdienst nicht lieber unseren deutschen Kunstspitzenarbeiterinnen zukommen lassen? Als "echte" Spitzen werden unseren Feldgrauen ja vielfach auch Maschinenspitzen aus Calais und aus dem Erzgebirge verkauft. Natürlich zum fünffachen Preis, den ihre Frauen und Schätze in der Heimat anlegen müssten. Heikel sind die Liller nicht, das habe ich schon öfters beobachtet. So sah ich unlängst auf dem Markt ein Kind von vier oder fünf Jahren die viereckigen Butterstücke, die seine Mutter feilhielt, als Bauklötzchen benutzen. Ungestört vertrieb es sich die Zeit mit dem eigenartigen Spielzeug. Man ist hier in hygienischer Beziehung um mindestens fünfzig Jahre hinter Deutschland zurück. Wenn man allein bedenkt, wie die Müllabfuhr hier gehandhabt wurde, bevor die deutsche Behörde eingriff. Vor jedem Hause stand eine alte Kiste oder ein ausgedienter Kücheneimer mit den Abfällen des Haushaltes. Schien nun die Sonne so recht sengend auf diese Äberbleibsel, dann wandelte man nicht eben durch balsamische Düfte. Und kam der offene Karren angefahren, um den Müll abzuholen, dann wurde mit einem kühnen Schwung Kiste oder Eimer ausgeschüttet und der Vorübergehende erhielt einen staubigen Gruß. Hier haben die strengen Bestimmungen unserer Polizei Wandel geschaffen. Arme, kleine, um ihre Kindheit betrogene, Mädelchen. Die drei- und vierjährigen Kinder sind genaue Abbilder ihrer geputzten Mütter, nur in verkleinertem Maßstab. Ich sah fünfjährige Zwillinge in rosa Taftkleidchen, auf den allerliebsten dunklen Lockenköpfen helmartige Gebilde, an denen seitlich "Reiher? angebracht waren. Dass diesen Jungen Damen die Patschhändchen in Handschuhe gezwängt werden, ist an der Tagesordnung. Von Kindesbeinen an werden sie auf Eitelkeit dressiert. Zum Glück ist ja an den Wickelkindern noch nicht allzu viel zu putzen - aber ein Armbändchen oder ein Halskettchen kriegen sie auch schon angehängt. Ist's verwunderlich, dass das heranwachsende weibliche Geschlecht hier durchschnittlich kein höheres Ziel kennt, als "sich gut anzuziehen"? Es macht mich ganz traurig, wenn ich sehe, wie Kinder, die noch nicht einmal Abc - Schützen sind, schon prüfende Blicke in die Schaufenster werfen. Auch richtige Jungens sah ich nirgends. In den besseren Stadtgegenden nur junge, Herren. Mit sieben Jahren fangen manche an Zigaretten zu rauchen. Und erstaunlich früh haben sie etwas unangenehm "Fertiges". Wenn ich an unsere frischen deutschen Jungens in den kleidsamen Kieler Anzügen denke und mit ihnen die Schüler des Liller Lycée vergleiche mit ihren steifen Stehkragen, modischen Filzhütchen und Spazierstöckchen! Ich habe hier noch keine Knaben getroffen, die z. B. das Spiel der Spiele, nämlich Soldaten gespielt hätten. Hier in Lille, kennt, das die Jugend nicht. Nicht im Spiel und auch nicht im vorbereitenden Ernst. Jugendkompagnien hat es hier nie gegeben. Dafür sitzen die Halbwüchsigen im Zitadellenwäldchen im Gras, spielen Karten, fluchen dazu, spucken und rauchen die unvermeidliche Zigarette. Denkmal für Brieftauben Auch etwas, was die Franzosen anders machen: In Lille steht ein Denkmal für die Brieftauben, die im militärischen Dienst ihr Leben ließen. |