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Kontorbeamte Firma Merck 1886 - Foto: Merck-Archiv

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Karl Seeger, kaufmännischer Angestellter der Firma Merck (1909 - 1934)


Bevor ich über meine eigentliche Tätigkeit berichte, möchte ich vorausschicken, daß mein Vater im Jahre 1883 vom Odenwald hierher nach Darmstadt kam und als Fuhrmann bei der Firma eintrat. Einen kleinen Ausschnitt aus der damaligen Tätigkeit meines Vaters zeigt das Bild 1. Es war dies gleich an der Einfahrt der damaligen Fabrik, also heute Ecke Mühl- und Lindenhofstraße gegenüber dem Schwimmbad.

Schon im Jahre 1898 starb mein Vater und hinterließ eine schwer geprüfte Mutter mit 4 kleinen Kindern. Daraufhin mußten wir aus der seitherigen Werkswohnung in der Stiftstraße und kamen in nächster Nähe der Fabrik zu wohnen. Mutter bekam nun von der Firma eine Witwenrente, womit sie wenigstens ihre Wohnungsmiete bestreiten konnte. Ebenso wurden ihr vom Werk Filtriersäcke zum Nähen gegeben, und später, als die neue Fabrik entstanden war, bekam sie einen Teil der Betriebshandtücher zum Waschen. Eine Waschanstalt in der Fabrik bestand zur damaligen Zeit noch nicht. Damit waren Mutter seitens der Fabrik verschiedene Einnahmemöglichkeiten gegeben, womit sie wenigstens den Lebensunterhalt mit ihren 4 Kindern bestreiten konnte.

Im Jahre 1909 wurde ich aus der Schule entlassen. Meiner Mutter war es nun sehr daran gelegen, für mich eine Stelle bei der Firma zu bekommen. Dadurch, daß Mutter schon Jahre durch ihre Arbeit in der Fabrik ein- und ausging, war sie auch mit manchen Stellen in Berührung gekommen, die ihr hierbei behilflich waren. Und so wurde es denn auch Wirklichkeit, daß ich mich eines Tages auf der Krankenkasse bei Herrn Schnellbächer, über dessen Person damals alle Einstellungen von Arbeitern liefen, vorstellen mußte und auch gleich angenommen wurde. Das war für mein Elternhaus ein freudiges Ereignis, ein freudiges Ereignis deshalb, weil ich als erster von meinen Geschwistern etwas für das Elternhaus verdienen konnte, denn meine beiden älteren Schwestern durften das Nähen erlernen. Mein Anfangslohn betrug 7.50 Mk. in der Woche.

Als nun er 5. April, der tag meines Eintritts kam, musste ich mich morgens um 7 Uhr wider auf der Krankenkasse melden. Von da wurde ich auf die Abteilung gebracht, wo ich meine Arbeit aufnehmen sollte. Wir betraten eine Raum, in welchem ringsum Körbe mit leeren Flaschen standen. In der einen Ecke sah ich ein Radgetriebe an der Decke laufen, und darunter standen die Arbeiter an Bottichen. Was das nun alles bedeutete, konnte ich mir nicht denken. Da kam ein älterer Mann mit Spitzbart auf mich zu, nahm mich in Empfang, wusste aber nichts von meinem Kommen. Er ließ mich meinen Rock ausziehen, gab mir eine Schürze und führte mich unter die Arbeiter. Jetzt erst sah, dass mittels diesem Radgetriebe Flaschenspülmaschinen in Tätigkeit gesetzt wurden. Willig ging ich an die Arbeit, denn ich wusste eigentlich gar nicht, für welche Arbeiten ich angenommen worden war. Bekannt war mir nur, dass meine Mutter etwas von Büroarbeiten bei einem Herrn Spreng sagte. Und so stellte sich der Irrtum bald heraus. So gegen 8 Uhr dürfte es gewesen sein, als mich der Herr mit Namen Rindfrey mit lächelnder Miene vom Arbeitsplatz holte, führte mich zu einem besser gekleideten Herrn, der mich sogleich auf den Irrtum aufmerksam machte, und ließ mich wieder umkleiden.

Ich bekam nun meinen Arbeitsplatz an einem Stehpult in nächster Nähe von Herrn Spreng, wo ich den ersten Tag mit Schreibübungen verbrachte. Die Arbeit begann für mich morgens um 7 Uhr und endete abends 6 Uhr, während der Dienst des Herrn Spreng von 8 bis 5 Uhr dauerte, und die übrigen beiden Herren Becker und Schmall abwechselnd Dienst von 7 bis 4 bzw. 9 bis 6 Uhr machten. Der Weg zur Arbeitsstelle dauerte für mich nahezu eine Stunde Gehzeit und bot damals ein ganz anderes Bild. Da war z.B. an Stelle des Riegerplatzes eine große Gärtnerei. Kam man dann an den Rhönring, so führte der Bahndamm der Odenwaldbahn vom alten Bahnhof bis hinauf zur Dieburger Straße. Dahinter erstreckten sich Äcker und Gärten, und am Schlachthof befand sich der Städt. Steinplatz, wo die Arbeiter unter freiem Himmel saßen und Steine klopften. Trat Regen ein, so stellten sie sich eine schräge Bretterwand auf und verrichteten darunter, mit der Schutzbrille vor den Augen, ihre Arbeit. Weiter, am Schlachthof vorbei, überquerten gleich dahinter die Geleise des Aschaffenburger Personenverkehrs die Frankfurter Straße. Von hier konnte man nun die Landstraße bis zur Fabrik übersehen. Da, wo heute der Nordbahnhof steht, führten weitere Geleise auf ebener Straße ebenfalls über die Frankfurter Straße weg nach Kranichstein und für den Güterverkehr nach Aschaffenburg. Dahinter lag eine Seilerei, woraus später das Werks-Wohnhaus entstand. Hier war es keine Seltenheit, Güterzüge von 100 und mehr Wagen zu sehen. Und gerade einer dieser langen Züge kam morgens kurz vor 7 Uhr. Da war nun der Schrankenwärter schon darauf eingestellt, durch frühzeitiges Herunterlassen der Schranken die Arbeiter darauf aufmerksam zu machen, daß der Zug in Sicht sei. Schon 50 m davor fing alles an zu laufen, um noch frühzeitig über die Geleise zu kommen, denn sonst war es bestimmt nach 7 Uhr, bis man zur Fabrik kam. Einen Teil der Belegschaft brachte das „Bimmelbähnche“ aus Griesheim und Eberstadt zur Arbeit, während die Arbeiter vom Odenwald, der Bergstraße und Umgebung vom Ost- bzw. Hauptbahnhof zur Fabrik gehen mußten. Ein Auto war damals noch etwas Seltenes. Äberall fuhr man mit Wagen und Pferden, so auch im Werk. Auch unsere sehr geehrten Senior-Chefs fuhren damit zur Fabrik. Schon von fern konnte man die Gespanne voneinander unterscheiden.

Genau so hat sich das Bild auch innerhalb der Fabrik geändert. Gleich am Fabrikeingang im Turmgebäude befand sich der Pförtner, wo morgens beim Betreten der Fabrik von den Arbeitern der Magazine ein Kontrollblech abgehängt werden mußte, zur Kontrolle, daß der betreffende Arbeiter anwesend war. Gleich nach Beginn der Arbeit wurden nun die Tafeln mit den noch hängenden Blechen abgenommen, und jeder später kommende Arbeiter mußte sich beim Pförtner melden, damit seine Ankunftszeit in das Kontrollbuch der betreffenden Abteilung eingetragen wurde. Diese Bücher wurden dann nach Wochenschluß den Abteilungen zugestellt, und gingen dann an die Lohnbuchhaltung zur Verrechnung der Löhne. Später wurden diese Kontrollmarken in den einzelnen Betrieben aufgehängt.

Kam ich nun morgens als erster aufs Büro, so musste ich zuerst ringsum Reinemachen und die Papierkörbe leeren. Um 9 Uhr 30, 11 und 2 Uhr ging ich aufs Hauptbüro in den empfang. Da saß ein Herr Monnard, de die Reisenden und sonstigen Besuche empfing, wo auch gleichzeitig eine Sammelstelle für den Schriftverkehr zwischen den Abteilungen des Kontors, der Fabrik und den Magazinen war. Die Schriftstücke für Kontor und Magazin musste ich austragen. Ebenso war in der Abteilung Einkauf ein Körbchen aufgestellt, in welches die Expedition die neu eingelaufene Post für die Emballagen-Abteilung legte, die dann beim Vorübergehen von mir mitgenommen wurde. Ebenso musste ich in den ersten Tagen jeden Monats in sämtliche Fabrikbetriebe die Belastungszettel für bezogene Emballagen bringen. Eine Botenzentrale gab es damals noch nicht. So war ich also schon nach kurzer Zeit mit sämtlichen Stellen des Werkes bekannt und damit auch mit meinen ersten Anfangsarbeiten vertraut. Bei allen diesen Arbeiten wurde ich von Herrn Spreng streng überwacht, dass sie gewissenhaft und mit einem entsprechenden Tempo ausgeführt wurden. Es genügten hierzu oftmals die scharfen Blicke des Herrn Spreng, die sehr auf mich einwirkten.

Auf dem Büro musste ich zwischendurch die Rechnungen der eingehenden Güter eintragen, die Post einregistrieren, die Arbeitszettel der Glasschwenker einschreiben und sonstige kleine Nebenarbeiten ausführen. Jedenfalls hatte ich im Laufe der Zeit eine große Freude und Interesse an der Arbeit gefunden. Dann lernte ich stenographieren und abends nach 5 Uhr, wenn Herr Spreng vom Büro war, setzte ich mich an die Schreibmaschine und probierte solange an den Tasten herum, bis ich all ihre Zwecke gefunden hatte.

Am 1. Januar 1912 wurde ich ins Angestelltenverhältnis versetzt; das löste natürlich bei mir eine große Freude aus und gab mir gleichzeitig neuen Ansporn zur Arbeit. So wurde mir das Verwalten des Emballagen-Lagers zugestanden, das in der Hauptsache darin bestand, die eingehenden Güter zu prüfen, die Bestände zu überwachen, die Verpackung an die Lieferanten zurückzuschicken und die damit verbundenen schriftlichen Arbeiten zu erledigen.

(Text: Merck-Archiv, Jubilarsberichte)