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Lebensläufe von Fabrikanten, Arbeitern und Angestellten aus der Pionierzeit der Industrialisierung




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Briefkopf der Maschinenfabrik Gebr. Buschbaum, 1885.
(Abb.: Hess. Wirtschaftsarchiv Abt. 141/71)
























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Briefkopf der Firma Röhm & Haas 1911.
(Abb.: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt G 28 Darmstadt R 514)



Die menschliche Seite der Industrialisierung lässt sich exemplarisch durch einige Lebensläufe veranschaulichen. Der Prozess der „Industrialisierung“ zog sich über mehrere Jahrzehnte hin. Erst 1907 waren im Großherzogtum Hessen gleich viele Personen in Industrie und Handel wie in Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, nämlich jeweils 37%. Hinter dem rein statistische Wandel verbirgt sich eine Unzahl von Brüchen in individuellen Biografien. Die prägendste Erfahrung dürfte der Wechsel vom Land in die Stadt gewesen sein. Außerdem vollzog sich in manchen Fällen eine Entwicklung von relativ bescheidenen „Hinterhof“ - Firmen zu weltweit agierenden Großunternehmen. Bemerkenswert ist dabei, wie wenig tatsächlich eine soziale Umschichtung im Sinne eines „Hocharbeitens“ stattfand. Die Spitzenkräfte der Industriearbeiterschaft kamen aus den traditionellen Handwerken, teilweise mit Meisterqualifikationen; sie stellten, zusammen mit den „Gesellen-Arbeitern“ die beiden oberen Gruppen der Industriearbeiter (und zugleich übrigens auch die Führungskräfte von Gewerkschaften und Sozialdemokratischer Partei). Die angelernten und ungelernten Arbeiter sowie die Tagelöhner kamen vielfach vom Land oder aus städtischen Unterschichten. Die Angestellten rekrutierten sich aus dem Kleinbürgertum: Handwerkern, unteren und subalternen Beamten, Detailhändlern.

Auch wenn in der Industrialisierungsphase sich die soziale und beruflich Struktur der Bevölkerung unendlich verzweigte und verfeinerte, war doch die Gesellschaft des Kaiserreichs durch eine relativ starre Sozialhierarchie gekennzeichnet. Innerhalb der sich stark vergrößernden Gruppen der Lohnarbeiterschaft oder der Angestellten gab es aber ein vielfältiges Auf und Ab. Ein häufigerer Wechsel der sozialen Schicht von unten nach oben, ein „selfmademan“-hafter Aufstieg von der Unterschicht ins Unternehmertum „gehört ins Reich der sozialromantischen Legenden“ (Wehler).

Prägende Gestalten des Industrialisierungsprozesses in Darmstadt kamen aus dem städtischen Bürgertum: der Maschinenfabrikant Heinrich Blumenthal (1824-1901) war Sohn eines Kaufmanns; der Gründer der heutigen Weltfirma Merck, Heinrich Emanuel Merck (1794-1855) war Sohn eines Apothekers und hatte ebenso Pharmazie studiert wie der Beamtensohn Otto Röhm (1876-1939), dessen Chemiefabrik heute als Röhm GmbH ebenfalls weltweit agiert. (Biografien von H.E. Merck und O. Röhm in der Dokumentenmappe 5)

Die Berufstätigkeit der Arbeitskräfte wurde durch Arbeitsordnungen geregelt, die zunächst von den Unternehmern selbst formuliert wurden. Erst die 1869 erlassene Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes, die am 10. Oktober 1871 als Reichsgesetz auch in Hessen gültig geworden war, steckte einen gesetzlichen Rahmen ab. Der Fabrikarbeiter wurde nun deutlich vom Handwerksgesellen abgesetzt (keine Verpflichtung zum Wandern mehr und auch keine Heranziehung zu häuslichen Arbeiten), es war eine 14tägige Kündigungsfrist für beide Seiten festgelegt worden ebenso wie die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen. Kontrolle fand durch die Ortspolizei, seit 1902 durch Gewerbeinspektionen statt.


Zwischen 1882 und 1907 nahm die Erwerbstätigkeit von Frauen im Großherzogtum zu: in der Landwirtschaft um ca. 10.000 Personen, was einem Drittel der dort insgesamt beschäftigten 163.387 Menschen entsprach. In der Industrie verdoppelte sich der Anteil der weiblichen Beschäftigten fast (von 17.867 auf 33.694) und stieg damit auf 15 % (bei 186.869 männlichen Beschäftigten). Den größten Anstieg verzeichnete der weibliche Beschäftigtenanteil im Sektor Handel und Gewerbe, wo er sich verdreifachte (von 4.992 auf 14.084) und damit auf 21 % stieg (bei 50.686 männlichen Beschäftigten). Nahezu konstant und ebenso nahezu ausschließlich durch weibliche Arbeitskräfte besetzt war die Zahl der „in der Haushaltung ihrer Herrschaft lebenden Dienenden“, deren Zahl 1907 22.392 betrug. Ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse waren durch die Gesindeordnung von 1877 vor allem zu Gunsten ihrer Herrschaft gesichert. Die oft noch jugendlichen Dienstmädchen waren zu „Ehrerbietung, Gehorsam, Treue, fleißiger und gewissenhafter Leistung“ gegenüber ihren Arbeitgebern verpflichtet, die sie auch zu „anderweitigen“ (d.h.: beliebigen) Arbeiten als den vereinbarten heranziehen durften. Ohne Erlaubnis durften sie nicht über Nacht die Wohnung verlassen. Schwangerschaft und über 14 Tage dauernde Krankheit waren Kündigungsgrund, staatliche Kontrolle fanden durch Gesinderegister und Dienstbuch statt.




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Ziegeleiarbeiter, auch arbeitende Kinder, vermutlich Südhssen, um 1900. - Foto: Hess. Wirtschaftsarchiv
Die Fabrikarbeit von Kindern wurde im Großherzogtum Hessen 1855 erstmals gesetzlich geregelt: Fabrikarbeit vor dem 10. Lebensjahr wurde verboten, vom 10. – 12. Jahr nur mit nicht mehr als 8 Stunden täglich gestattet. Am 10. Oktober 1871 wurde die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes auch in Hessen Gesetz und damit die Altersgrenze für Fabrikarbeit auf 13 Jahre angehoben; unter 14 Jahren betrug die zugelassene Arbeitszeit nicht mehr als 6 Stunden täglich, zwischen 14 und 16 Jahren nicht mehr als 10 Stunden. In den 90er Jahren und schließlich 1903 wurden die Bestimmungen hinsichtlich jugendlicher Arbeiter und Kinder noch einmal präzisiert. Die Kontrollen durch die Gewerbeinspektoren ergaben im Jahr 1907 für den Inspektionsbezirk Darmstadt 500 Verstöße, für den Bezirk Offenbach 597, das betraf jeweils um 40 % der gewerblich tätigen Kinder. Neben der Arbeit in Zigarren- und Schuhfabriken und der Ziegelherstellung ist vor allem im ländlichen Bäckereigewerbe die Beschäftigung von schulpflichtigen Kindern nachgewiesen. Einen Sonderfall bildet die hier dokumentierte Beschäftigung von Kindern als Musikern. (Dok. 8)





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  • Dokument 1
    Heinrich Blumenthal, Fabrikant und Stadtentwickler

  • Dokument 2
    Chemische Fabrik E. Merck, ein Firmenporträt
    Chemische Fabrik Merck - Historisch-Biographische Blätter, Industrie, Handel und Gewerbe. Das Großherzogtum Hessen. Ecksteins Biographischer Verlag, Berlin 1906/11 - Abb.: Hess. Wirtschaftsarchiv)

  • Dokument 3
    Fabrikordnung der Fa. Merck, 1884

  • Dokument 4
    Karl Seeger, kaufmännischer Angestellter

  • Dokument 5
    Katharina Old, von der Arbeiterin zur Angestellten

  • Dokument 6
    Regeln fürs Leben der Dienstmädchen: Die hessische Gesindeordnung
    Auszug aus der Gesindeordnung vom 28. April 1877 (Adreßbuch der Stadt Darmstadt)

  • Dokument 7
    Gesinde-Dienstbuch von Anna Schuchmann, geb. 02.Februar 1881 in Ober-Ramstadt (Stadtarchiv Darmstadt)

  • Dokument 8
    Regeln für die Arbeit von Kindern und Jugendlichen
    Auszug aus der Gewerbeordnung von 1891 (G 15 Lauterbach Nr. 3556)

  • Dokument 9
    Ein Sonderfall von Kinderarbeit: Das „Frankfurter Kinder-Terzett“ in Beerfelden