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5. Zukunft: eine problematische Jugend und neue SchulenFür die im Nachkriegsdeutschland aufwachsenden Kinder und Jugendlichen bedeutete die Niederlage von 1945 zunächst einmal lange Ferien. Erst im Oktober bzw. November begann wieder der Schulunterricht. Die Erschütterung aller gesellschaftlichen Ordnung hatte bei vielen Jugendlichen zur moralischen Verwahrlosung geführt: von unverschuldeten Kriegsfolgen wie Herumtreiberei und Obdachlosigkeit über harmlosere Delikte (Übertretung der Sperrstunde, Rauchverbot in der Öffentlichkeit) bis hin zur beträchtlich gestiegenen Kriminalität (Diebstahl, Prostitution). Mit Hilfe der Besatzungsmacht konnten die durch Mangelernährung aufgetretenen gesundheitlichen Schäden begrenzt werden (z.B. mittels der nahezu flächendeckend organisierten Schulspeisung). Einen besonderen Platz bei den jugendpflegerischen Aufgaben nahmen die erstmals 1947 organisierten Zeltlager der Landkreise ein.Im starr hierarchischen deutschen Schulsystem sah die amerikanische Besatzungsmacht eine Ursache für die mangelnde demokratische Einstellung vieler Deutscher, die zu der Katastrophe von 1933 geführt hatte. Nachdem eine US-Kommission aus Erziehungswissenschaftlern, die vom Präsidenten des "American Council on Education", George F. Zook geleitet wurde, Ende 1946 detaillierte Kritik sowohl an der undurchlässigen Dreigliedrigkeit wie an undemokratischen Erziehungsstilen geübt hatte, ordnete der US- Militärgouverneur Clay am 10. Januar 1947 an, das deutsche Schulsystem demokratisch umzugestalten (Kontrollrats-Direktive 54). Der hessische Kultusminister Stein (CDU) legte daraufhin einen Entwurf vor, der in einigen Punkten amerikanischen Vorstellungen entsprach, allerdings nicht darin, eine gemeinsame sechsjährige Grundschule einzuführen. Als daraufhin die Militärregierung deren Einführung am 9.8. 1948 anordnete, reagierten Stein und die Landesregierung mit Verzögerungstaktik, denn die Widerstände insbesondere unter Eltern und Lehrern der höheren Schulen war enorm stark. Mit der Gründung der Bundesrepublik und der Einführung des Besatzungsstatuts endete 1949 die Kompetenz der Militärregierung in Erziehungsfragen. Im Landtag des Jahres 1950 zeigten dann CDU und SPD wenig Interesse mehr für Steins weitere Entwürfe. Allein die 1946 schon proklamierte, in Art. 59 der Hessischen Verfassung dann festgeschriebene Schulgeld- und Lernmittelfreiheit blieb von den Reformansätzen in Hessen erhalten, wurden aber erst am 16. Februar 1949 vom Landtag als Gesetz verabschiedet. Auch das Verbot körperlicher Züchtigung, die überkonfessionelle Gemeinschaftsschule, die Schulgeld- und Lehrmittelfreiheit waren Ergebnis der Veränderungsanstrengungen. Gegen die übrigen Reformen (Aufhebung der standesähnlichen Trennung der drei Schulformen, Einführung einer gemeinsamen 6-jährigen Grundschule) opponierten vor allem die Verbände der Lehrer der höheren Schulen. Der amerikanische Hochkommissar John McCloy besucht das Schuldorf Bergstraße bei der Grundsteinlegung 1952 (rechts neben ihm: Landrat Wink). - (Foto: Wink, Georg: Der Landkreis Darmstadt nach 1945. Darmstadt 1965, S. 52) Mit der Gründung des Schuldorfs Bergstraße 1952 als erster (additiver) Gesamtschule in Deutschland konnte Landrat Wink ein Zeichen setzen, an das erst in den siebziger Jahren wieder angeknüpft wurde. Das mit finanzieller Unterstützung aus den USA in Seeheim bei Darmstadt eingerichtete und 1954 eröffnete "Schuldorf Bergstraße" fasste als erste Gesamtschule in der Bundesrepublik alle Schulformen vom Kindergarten bis zur Berufsschule unter einem Dach zusammen. Nach den Vorstellungen von Landrat Wink sollten in dieser Gemeinschaftsschule, sich Lehrer und Schüler nicht als Glied einer Schulart, sondern als Mitglied ihrer- nämlich der Gemeinschaftsschule fühlen. Es sollten einerseits die Gräben überbrückt werden, die in der Vergangenheit zwischen den einzelnen Schularten bestanden, andererseits auch die Schule von der zu engen Bindung an die Obrigkeit gelöst werden und gerade auf dem Land Eltern und Gemeinde stärker für sie verantwortlich sein. Schwieriger als der Erlass von Verordnungen oder die Errichtung neuer Gebäude war freilich die Reform der Lehrerschaft. Im Zuge der Entnazifizierung waren zunächst 85% der hessischen Lehrkräfte entlassen worden. Die Klassenstärke lag bei 55 Schülern. Politisch unbelastete Lehrer sollten in Kursen unter amerikanischer Anleitung auf die neuen Aufgaben vorbereitet werden. Bei manchen Kursteilnehmern wird deutlich, mit welcher Unsicherheit sie sich zwischen dem traditionellen, lebensfernen Idealismus ("Neuhumanismus") und den praktischen Aufgaben der Erziehung zu demokratischem Denken und Handeln neu zu orientieren suchten. Aus einer bewussten oder unbewussten Abwehrhaltung heraus verweigerten viele Lehrer die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit. Schon 1947 mußte der Hessische Kultusminister darauf hinweisen, dass im Geschichtsunterricht auch die jüngste Vergangenheit behandelt werden sollte. Gerade weil viele Lehrer in diese Vergangenheit - und sei es nur als Mitläufer - verstrickt waren, blendeten sie noch jahrelang diese Epoche aus ihrem Unterricht aus. Als Gegengewicht wurde 1946 wurde die Gemeinschaftskunde in Hessen als Pflichtfach eingeführt, am 21. August 1948 die Lehrpläne für den "politischen Unterricht" veröffentlicht. Sie beabsichtigten eine Einführung der Kinder in die soziale Wirklichkeit von Familie und Gemeinde über die Nation hin zur Welt und zugleich eine Hinführung zu einem politischen Handeln nach Maßstäben einer sittlichen Weltordnung. So sehr etwa die amerikanische Militärregierung diesen Plänen auch Beifall zollte: ihre praktische Wirkung blieb zunächst gleich Null. Die Lehrer waren nicht nur für die neuen Stoffe nicht ausgebildet worden, sondern sie hatten als Erbe ihrer Mitläuferschaft im Nationalsozialismus vor allem eine undifferenzierte "Abwehrstellung gegen alles Politische" zurückbehalten. Bei den älteren Lehrern widersprachen eine vorgeschobene politische Neutralität (die bestenfalls Skepsis, oft aber Abwehr der Demokratie bedeutete) sowie ein undemokratischer Unterrichtsstil demokratischen Inhalten - so sie denn überhaupt vermittelt wurden. Weiterbildung durch das 1951 in Hessen eingerichtete Lehrerfortbildungswerk wurde zunächst kaum angenommen. In dieser Inkonsequenz, die durch die Konfrontationen des "Kalten Krieges" begünstigt wurden, lag der Zündstoff für den Generationskonflikt, den ein großer Teil der Nachkriegsgeneration um 1968 mit ihrer Elterngeneration durchfocht. Landrat Georg Wink bei der Einweihung des "Schuldorfs" 1954. (Foto: Wink, Georg: Nach neun Jahren. Wiederaufbau im Landkreis Darmstadt. Verwaltungsbericht 1945-1954. Darmstadt 1954, S. 99) |
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Dokumentenliste
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