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Helmut Lettenbaur


Lebenslauf:


Darmstadt, den 21. Juli 1919.
Sehr geehrter Herr!
Sie hatten, wenn ich nicht irre, im Jahre 1915 die Liebenswürdigkeit, mich aufzufordern Ihnen über meinen auf dem Felde der Ehre gefallenen Sohn Helmut Lettenbaur einiges mitzuteilen. Zu meinem Bedauern, konnte ich diesem Wunsche früher nicht Folge leisten, da es in den ersten Jahren zu schmerzlich für mich war, aus seinen hinterlassenen Papieren und Briefen die nötigen Daten zusammenzusuchen. Ich habe mich nun in den letzten Tagen doch dieser Arbeit unterzogen und überreiche Ihnen anbei für die Sammlung des städtischen Museums einen kurzen Lebenslauf meines Sohnes.

Hochachtungsvoll
K. Lettenbaur

Beckstr. 66


Helmut Karl Günther Lettenbaur
wurde geboren am Pfingstsonntag, den 13. Mai 1894 als der Sohn des Kaufmanns Karl Lettenbaur, geb. am 25. April 1859 zu Augsburg und seiner Ehegattin Luise geb. v. Bachelle, geb. am 24. Dezember. 1865 in der Provinz Hannover. Im September 1895 siedelten seine Eltern nach Darmstadt über, wo sein Vater als kaufmännischer Beamter des Hauses E. Merck angestellt wurde. Ostern 1900 trat Helmut Lettenbaur in die Vorschule des Ludwig-Georg-Gymnasiums ein und besuchte diese Anstalt bis März 1912, wo er sie mit Primareife verliess. Am 1. April 1912 trat er in die Lehre der gräflichen Hofapotheke des Herrn Rossbach zu Laubach in Oberhessen. Ende Juli erhielt er einen 14tägigen Urlaub, aus dem er nicht mehr nach Laubach zurückkehren sollte, da am 4. August dieses Jahres der grosse Krieg ausbrach. Er kam sofort aus dem Schwarzwald nach Darmstadt zurück und meldete sich beim 115. Garde-Infanterie-Regiment. Wo er als Kriegsfreiwilliger eingestellt wurde. Infolge viermaligen während seiner Schulzeit vorgefallenen Bruches des linken Oberarms, der ausserdem noch schlecht angeheilt war, wäre er in Friedenszeiten zum Militär untauglich gewesen, da er aber den Fehler als unbedeutend hinzustellen wusste, wurde ihm 14. August 1914 die Freude, mit einem grossen Teil seiner Schulfreunde, eingereiht zu werden in die Schar der jungen Männer, die mit ganzem Herzen und ganzer Seele ihrem Vaterlande zu Hilfe kommen wollten. Durch und durch Soldat, morgens der Erste in dem und abends der Letzte aus dem Dienst, erwarb er sich die besondere Zuneigung seines Leutnants, des Freiherrn von Grothus, der auch öfters nach dem Exerzieren mit ihm nach Hause ging und ihm bei einer solchen Gelegenheit nahelegte, doch beim Militär zu bleiben und Offizier zu werden. Wir gaben hierzu gern unsere Einwilligung, da wir sahen, mit welcher Freude er zu diesem Beruf hinneigte. Die Ausbildungszeit war bald zu Ende und am Sonntage, den 11. August 1914, nachmittags 2 Uhr, zogen die 221er, die inzwischen neu gebildet worden waren, die Rheinstraße hinunter nach dem Bahnhof, um nach dem Westen eingeladen zu werden. Helmut Lettenbaur gehörte zum 24. Reserve-Korps, 48. Reserve-Division, 221. Reserve-Infanterie-Regiment, 4. Komp (vom 9. November 1914 ab 7. Kompanie). Die Reise ging über Hargarden nach Moulin bei Metz, wo dann spaeter groessere Uebungen veranstaltet wurden. Er schrieb mit dem Ausdruck der groessten Freude, dass sie am 16. Oktober bei Asny über die französische Grenze und wieder zurück gezogen seien, stets unter den Tönen des frohen Gesanges "Deutschland, Deutschland über Alles..." Einige Tage später unternahm er von La Voir‚e aus bei Fromelles mit einem Leutnant und einigen Mann einen kühnen und erfolgreichen Patrouillengang, er dem Führer das Eiserne Kreuz II. Klasse einbrachte. Er selbst wurde vorgemerkt. Durch seine Kenntnis im Behandeln Kranker und Verwundeter wurde er bald in der Kompanie ungemein beliebt, während er sich andererseits durch seinen Mut die Achtung der Vorgesetzten in höchstem Maße erwarb. Bei La Voir‚e schlich er sich laut seinem Brief vom 18. November 1914 nachts ohne Gepäck, nur mit dem Gewehr und in den Taschen Patronen und eine Drahtschere, auf dem Bauch zu den Engländern hinüber, die ihn entdeckten und mörderisch feuerten. Er kam aber glücklich wieder zurück, nachdem er sich hatte mehrmals tot stellen müssen, und konnte seinen Vorgesetzten wichtige Nachrichten überbringen. Dafür ward er zum zweiten Mal für das Eiserne Kreuz vorgeschlagen. Bald musste das Regiment die Liller Gegend verlassen, es kam nach dem Osten. Wir hörten erst wieder von ihm unter dem 30. November 1914, wo er uns von der Grenze aus eine kurze Karte schrieb, die mit den Worten schloss: "Hurrah, morgen geht es gegen den Feind!" Seine Nachrichten waren immer sehr dürftig, was nach den Aussagen seiner Kameraden daran lag, dass er seine dienstlichen Verpflichtungen mit vorbildlicher Gewissenhaftigkeit wahrnahm, auch sich kaum Zeit zur Ruhe gönnte. An seinem Oberleutnant Freiherr von Grothus hing er mit rührender Liebe. Als dieser bei einem Sturmangriff am 1. November gefallen war, ging Helmut nachts, selbst abgekämpft und todmüde, an die Stätte, wo er seine Leiche vermutete, fand sie auch und sorgte für gehörige Bergung. Herr von Grothus hat ausdrücklich seiner Familie über ihn berichtet, denn nach Monaten erhielten wir von dessen Schwester, einer Frau Major Keller in Charlottenburg, die Mitteilung, in einem Briefe ihres Bruders heiße es: "Der Kriegsfreiwillige Helmut Lettenbaur soll, wenn ich falle, mein silbernes Zigaretten-Etui erhalten, lasst aber vorher nebst meinem Todestag die Worte eingraben: 'Dem Treuesten der Treuen." Tieferschüttert von dem Verlust seines von ihm so verehrten Führers kehrte er früh morgens zu seinem Dienst zurück, den er unverdrossen weitertat, nichts im Auge als die Pflicht. Die Tapferen zogen weiter nach Osten und erst am 31. Dezember 1914 erreichte uns eine Karte eines hiesigen Kameraden, dass Helmut am 4. Dezember in einem blutigen Gefechte bei Dombrowa südlich von Lodz, gerade als er seinem Kompagnieführer Feldwebel-Leutnant Holzschuh, der schwer getroffen war, Deckung verschaffen wollte, einen ziemlich schweren Kopfstreifschuss erhalten hat. Er wurde auf den Verbandsplatz gebracht, schlief dann fest ein, bekam aber bald Lähmungserscheinungen und verstarb am 9. Dezember 1914. Noch am Abend seiner Verwundung bekam er das Eiserne Kreuz. Wie sehr in seine Vorgesetzten und Kameraden schätzten, ersahen wir aus den Berichten mehrerer Mitkämpfer, die erzählten, immer wenn ein Kamerad verwundet oder hilflos war, sei der Ruf erklungen: "Wo ist der Lettenbaur?" Als Herr von Grothus fiel, übergab er die Kompagnie Herrn Holzschuh und verlangte nach unserem Sohne. Desgleichen war Herrn Holzschuhs Verlangen sofort nach seiner schweren Verwundung nach ihm. Zu Zabloty, am Nordwestausgang des Dorfes, wurde er begraben. Leider konnte unser junger Held an dieser Stätte noch keine Ruhe finden. Da Zabloty zu weit abseits der grossen Landstraße liegt und die Pflege der wenigen Gräber daselbst kaum durchzuführen wäre, musste an eine Umbettung gedacht werden. Diese fand statt Ende April 1917 und zwar nach dem Waldfriedhof Chynow bei Petrikau, wo er mit vielen seiner Mitkämpfer nunmehr endgültig zur Ruhe gebettet ist. An einem Sonntag geboren, an einem Sonntag hinausgezogen aus der Heimat, um seinem Vaterlande beizustehen, ist er auch insofern ein Sonntagskind gewesen, indem er die Schmach des Vaterlandes nicht mehr zu erleben brauchte. Für Kaiser und Reich und Deutschlands Grösse ist er dahingegangen, den Sturz des ehrwürdigen Alten brauchte er nicht mehr mit anzusehen, die Schande Deutschlands nicht mehr mit zu erdulden. In jugendlicher Begeisterung ist er in den Tod gegangen, glücklich vereint mit allen Helden, denen Deutschland ewigen Dank schuldet. Die Seinen wiederholen aus tiefstem Herzen die Schlussworte der Anzeige von seinem Heldentode:
Im Leben unsere Freude
Im Tode unser Stolz.

Darmstadt, 21. Juli 1919
Karl Lettenbaur, Beckstr. 66



Selbstzeugnis: