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Brief von Olga S., damals 14 Jahre, Zwangsarbeiterin in Darmstadt und Messel 1943 - 1945.

[Der Brief wird hier so wiedergegeben, wie er in Charkow/Ukraine ins Deutsche übersetzt worden ist. Falsch geschriebene, identifizierbare Orts- und Firmennamen wurden korrigiert.]


Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister!

Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich an Sie mit der Bitte um Hilfe wende.
Seit September 1942 bis April 1945 wurde ich, S., Olga Petrowna und meine Mutter, T., Alexandra Efimowna ( 1911 geboren, 1971 gestorben) nach Deutschland zu den Zwangsarbeiten hingebracht. In den Archiven der sowjetischen Staatssicherheit (NKWD) kann man meine Dokumente nicht finden, vielleicht können entsprechende Dokumente in Deutschland gefunden werden, oder Zeugen, die meine Arbeit in Darmstadt in jener Zeitspanne bestätigen können.

Ich möchte konkreter die Ereignisse jener Jahre beschreiben. Hunger hat uns gezwungen, die Stadt Charkow zu verlassen, die Mutter und ich mußten in der Suche nach Ernährung von Dorf zu Dorf wandern, so gerieten wir ins Dorf Senkowo des Poltawer Gebiets, das konnte auch Trostjanez des Sumyer Gebiets sein, jetzt kann ich mich daran nicht genau erinnern. Die Jugendlichen wurden an jenem Tage nach Deutschland getrieben. Eine Menge der Jugendlichen wurde von der Militärbewachung begleitet, das waren Polizisten mit Hunden, sie bewegten sich in der Richtung des Güterbahnhofes die Straße entlang. Meine Mutter und ich standen auf dem Fußsteig unter der Bevölkerung, einer der Polizisten trieb uns mit Hilfe seines Hundes in diese Kolonne hinein. Wir wurden in Güterzüge verladen und durch Polen nach Deutschland transportiert. Nach einigen Tagen wurden wir in der Stadt Peremischl abgeladen und in einem Gebäude untergebracht. Wir schliefen auf dem leeren Boden, ohne Wasser und Essen, so war es die ganze Zeit. Etwa nach einer Woche, wurden wir wieder in die Güterzüge verladen, wir waren lange unterwegs. Es war im Wagen schwer zu atmen, alles war läusig, alle waren hungrig. Der Weg schien nie zu Ende zu sein. Ich war noch kaum 14 Jahre alt, meine Mutti war 31 Jahre alt. Wir waren in Frankfurt am Main angekommen und wurden in ein Quarantänelager transportiert. Das Lager lag in einem Wald, von einem hohen Stacheldrahtzaun mit elektrischem Strom umgeben. Wir wurden bis nackt ausgekleidet, mit einer stinkenden schwarzen Flüssigkeit geschmiert. Unsere Kleidung wurde in einer Kammer desinfiziert. Nach einer halben Stunde kam der Befehl, sich zu duschen und sich anzuziehen. Unsere Quarantäne dauerte einen Monat. Man gab uns einmal am Tag was zu essen. Das war schmutzige Suppe aus nicht geschälten Kartoffeln zusammen mit Erdeklumpen und Stroh, dazu gehörten auch 100 Gramm nasses Brot aus Rübe und Kleie. Ich erinnere mich ganz gut daran. Dann wurden wir wieder in die Güterzüge verladen und nach Darmstaat zum Roederwerk gebracht. Im Werk wurden Kessel für Feldküchen und Gasöfen produziert. Ich arbeitete als Montagearbeiterin in der Gasofenabteilung. Wir arbeiteten 12 Stunden pro Tag, ab 6.00 morgens bis 18.00 abends, schichtenweise, d.h. in der nächsten Woche ab 18.00 abends bis 6.00 morgens. Wir wohnten in Holzbaracken im Lager dem Werk gegenüber, schliefen auf zweistöckigen Liegepritschen. Wir trugen Monteuranzüge und Schuhe mit Holzsohlen. An der Brust hatten wir weißblaue Stoffkerbstreifen mit drei großen weißen Buchstaben "OST". Die Polen hatten an der Brust einen gelben Kreis mit einem schwarzen Buchstaben "P" in der Mitte. Dreimal bekamen wir was zu essen: am Morgen Ersatzkaffee, zu Mittag Kohlrübesuppe, am Abend gekochte Kartoffeln. Wir bekamen auch 400 Gramm Brot pro Tag. In kalten Jahreszeiten kuschelten wir uns in allmögliche Klamotten, wer was hatte. An einem der Sommertage 1943 kam eine Dolmetscherin auf uns heran und warnte uns, daß wir uns sauber anziehen und führte die Mutter und mich zum Arbeitsamt. Wir waren gegen 10 Frauen. Wir wurden aufgestellt, die deutschen Hausfrauen wählten uns für die Arbeit. Seit dem Sommer 1943 wurde ich Arbeiterin bei Frau Erika He. Sie war Inhaberin des Restaurants "Hannibal" in der Kirchstr. und meine Mutter wurde Arbeiterin bei Frau Ha. im Restaurant "Boxhaut" in derselben Straße. Ich war der Frau Erika He. sehr dankbar, dass sie mich mit der Mutter nicht getrennt hatte. Als man ihr sagte, dass ich nicht alleine bin, hatte sie auch meine Mutter geholt und zu ihrer Freundin Frau Ha. bestimmt. Frau Erika He. hatte hellbraune Haare, gegen 28 Jahre alt, stämmig, höher als mittlere Größe, sie trug eine Brille. Sie hatte ein Kind, das war ein Mädchen, 1,5?2 Jahre alt. Frau He. kam oft und arbeitete in ihrem Büro am Restaurant. Sie verhielt sich zu mir gut. Wir arbeiteten in der Küche: wuschen das Geschirr, putzten Kessel, Töpfe, brachten die Zimmer in Ordnung. Mit mir zusammen arbeiteten auch deutsche Mädchen: Hilde, Therese, Lenny, Frizzi. Die Köche waren Franzosen Franz und Jean. Zwei deutsche Jungen halfen ihnen: Joachim und Wast (unter 18). Frau Ha., die Inhaberin des Restaurants "Boxhaut" hatte zwei Töchter: Liese?Lotte, Anna?Marie. Als der ältere Sohn K. im Krieg fiel, weinte Frau Ha. sehr stark. Der jüngere Sohn hieß Franz. Die Verwalterin des Restaurants "Boxhaut" war die junge Frau Käthe, etwa 26 Jahre alt. Ihre Tochter Lilli war 5 Jahre alt. Käthe hatte einen Bruder, er hieß Fritz. Fritz hatte damals den Urlaub und kam bei der Schwester vorbei. Liese war Köchin, Lotte Geschirrwäscherin, arbeitete in der Küche, so wie ich, meine Mutter, Rose und [ein] Kellner: ein bejahrter Mann mit dem Namen Rudi, zwei deutsche Frauen: Margot und Emmi. Ich erinnere mich an sie ganz gut. Am 22. Oktober 1944 brachte Käthe und schenkte mir einen roten Rosenstrauß, und in der Nacht am 23. Oktober wurde die Stadt sehr stark zerbombt. Am Morgen waren überall nur Ruinen, an diesem Tag, am 23. Oktober 1944 wurde ich 16 Jahre alt. Ich erinnere mich in der Stadt Darmstadt an eine Straße nämlich die Kirchstraße. Eine enge Straße ohne Bäume. Zwischen zwei Restaurants stand ein kleines Hüte-geschäft. Das Restaurant: "Hannibal" war ein hohes 4? stöckiges Gebäude, unter jedem Fenster waren Blumenkästen gefestigt. Die Blumen waren unserem Geranien ähnlich. Ich goß sie oft im 3. Stock, wo wir wohnten. Wir arbeiteten von 5.00 bis 24.00 täglich ohne Ruhetage. Zweimal hatte ich aber die Erlaubnis, Mädchen aus dem Roederwerk zu besuchen, so ging ich durch das Stadtzentrum. Ich erinnere mich an die große hohe Säule in der Mitte des kleinen Stadtplatzes. Man sagte, das wäre ein Denkmal, ich weiß aber nicht, wem und wozu.

Seit Oktober 1944, nachdem die Stadt von den Amerikanern zerbombt worden war, wurden die Mutter und ich in die Siedlung Grube Messel, 28 km von Darmstadt entfernt, hingebracht, wieder in ein Lager mit einem Stacheldrahtzaun. Dort war eine Grube, wo Erz auf offene Weise gewonnen wurde. Dort arbeiteten gefangengenommene Franzosen, es gab auch etwa 25 Hilfsarbeiter, Russen und Ukrainer. Ich transportierte die Schlacke ab, wir arbeiteten 12 Stunden, so wie im Roederwerk. Wir aßen wieder Kohlrübensuppe und ein Brot pro Woche. Unter den Franzosen war Stefan Brusi aus der Stadt Lille. Er gab mir oft sein Brot. Wir arbeiteten (ich und meine Mutter) in der Grube bis April 1945. Nach der Befreiung des Lagers durch Amerikaner wurden wir ins Transportlager nach Darmstadt geschickt. Dann wurden wir in Juni?Juli in die Heimat gebracht. Das letzte Etappenlager unterwegs war in der Stadt Torgau, dann stiegen wir in Lwow um und kamen im September 1945 in Charkow an. Wir wurden von den Staatssicherheitsorganen (NKWD) verhört, nach 3 Tagen wurden wir freigelassen, uns wurden die Ausweise entnommen, wir bekamen sowjetische Pässe. So begannen wir in der Heimat zu leben und zu arbeiten. Unsere alte Wohnung bekamen wir nicht zurück. Meine Mutter und ich hausten in fremden Wohnungen, mieteten ein Zimmer. Ich war unglücklich verheiratet. Den Mann, den ich liebte, konnte ich nicht heiraten. Jetzt bin ich eine bejahrte, kranke Frau. Ich wohne zusammen mit meinem einzigen Sohn, der behindert ist. Ich hatte in meinem Leben sehr wenige helle, wohltuende Tage, ich sollte sehr viel und hart arbeiten. Die materielle Kompensation, die jetzt Deutschland den ehemaligen Ostarbeitern erteilt, wäre für mich eine gute Unterstützung.

Herr Bürgermeister, versuchen Sie bitte unter Berücksichtigung all dieser Tatsachen Dokumente oder andere Beweisungen meines Aufenthaltes von 1942 bis 1945 auf Zwangsarbeiten in Ihrer Stadt zu ermitteln.

Ich bin Ihnen im voraus sehr dankbar.
Hochachtungsvoll Olga Petrowna S.
Charkow? Ukraine
15. März 2002