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Aus den Erinnerungen von Heinrich Huxhorn.

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Heinrich Huxhorn (1891 - 1970)
(Foto StA Darmstadt).


Der gelernte Zigarrenmacher kam über die Mitgliedschaft in der USPD zur KPD, für die er in Pfungstadt im Gemeinderat tätig war. 1933 wurde er in Mannheim verhaftet und dort im Gefängnis in "Schutzhaft" genommen. Nach seiner Freilassung wurde er erneut in Darmstadt inhaftiert und von der SA mißhandelt. Danach lebte er unter Polizeiaufsicht und da man ihm nicht gestattete, als Handlungsreisender (was ihm politische Verbindungen erleichtert hätte) seine Familie zu ernähren, war er auf die Wohlfahrt angewiesen. Seine Kontakte zum kommunistischen Widerstand hielt er auch während seiner Zeit als Zivilarbeiter bei der Wehrmacht in Frankreich aufrecht. Ab 1944 "unterwanderte" er mit anderen Sozialdemokraten und Kommunisten den Volkssturm in Pfungstadt und bereitete so die kampflose Übergabe seiner Heimatstadt vor. Nach 1945 war er kommissarischer Bürgermeister, dann Erster Beigeordneter in Pfungstadt und noch lange Jahre kommunalpolitisch tätig.

Heinrich Huxhorn schreibt in seinen Erinnerungen:

Da keine deutschen Soldaten zurückströmten und an dieser Stelle auch keine Panzersperre vorhanden war, fuhr ich [am 24. März] per Fahrrad durch die Lindenstraße und gab der Bevölkerung Anweisung, weiße Fahnen zu hissen, was auch sofort befolgt wurde. [...] Ich selbst hatte gerade noch Zeit zum Hissen der weißen Fahne, bevor eine Salve Granaten in kaum 50 Meter Entfernung von dem Haus im Walde einschlug. Da rollten sie auch schon, die ersten Ami-Panzer und die Infanterie kämmte die Häuser durch. [...] Aber, obgleich wir alle Möglichkeiten des Widerstandes durch Einsatz des Volkssturmes verhindert hatten [der Volkssturm war gezielt von Kommunisten und Sozialdemokraten "unterwandert" worden, um den aussichtslosen bewaffneten Kampf zu verhindern - die Hrsg.], und andererseits erwiesenermaßen sich keine kämpfenden Truppen in diesem ganzen Kampfabschnitt befanden, flogen in dieser Stunde drohend die Bombengeschwader in geringer Höhe über unsern Häuptern. Und obwohl die örtliche Bevölkerung mit wenigen Ausnahmen sofort unsere Parole befolgte und weiße Fahnen hisste, konnten wir dennoch nicht verhindern, dass der Ort noch salvenweise mit Artillerie beschossen wurde und noch ca. 60 Treffer in Pfungstadt einschlugen. Da man später in fast allen Orten die gleiche Feststellung machen konnte, darf man mit Recht annehmen, dass diese Anweisung generell gegeben war, wohl um die Bevölkerung von der Feuerkraft der Panzer zu überzeugen und so zur Räson zu bringen. Die Infanterie kämmte alle Häuser durch und benahm sich so, wie sich das Militär in solchen Fällen im allgemeinen verhält. [...] Und noch eine Tatsache gilt es festzuhalten, nämlich die, dass die schwarzen oder farbigen Truppen viel anständiger, freigebiger und zuvorkommender waren als die weißen Truppen. Auch hatten sie für unsere Lage, wohl aus Erfahrung, weit mehr Verständnis.
(Aus: Huxhorn, Ein Leben im Dienst des arbeitenden Menschen, S. 130-132)

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Weiße Fahnen in den Straßen von Pfungstadt (Foto StA Darmstadt).


Gleich die ersten Stunden und Tage nach dem Umsturz ließen erkennen, dass die Bevölkerung, allgemein die Arbeiterschaft erst recht nicht erkannt hatte, um was es in dieser Situation ging. Zur gleichen Zeit, da wir versuchten, alle moralisch einwandfreien Kräfte zur Mitarbeit zu mobilisieren, um die ganze Last der Arbeit möglichst auf tragfähige Schultern zu verteilen, ging jeder Einzelne seine eigenen Wege. Jeder war bestrebt, für sich die Situation restlos auszunutzen und stahl Alles, was ihm in den Weg kam.

Und so wie es hier war, so war es allerwärts. Heute war es das Heeres-Proviantlager in Darmstadt, das gestürmt wurde und wertvolles Volksgut wahllos gestohlen oder vernichtet wurde. Zentnerweise wurde Mehl, Zucker, Fleischkonserven und vieles mehr mittels Handwagen durch den Wald nach hier geschafft und in Ecken und Winkeln versteckt. Andere raubten zur gleichen Zeit die "Muna" oder den Bauhof auf dem Mühlberg aus, während wir und die örtliche Polizei uns tagelang unter Lebensgefahr mit fremdländischen Arbeitern zu beschäftigen hatten, damit diese in ihrem Zorn nicht wahllos alles kaputt schlugen oder in Brand steckten.

Alle Mahnungen und Ermahnungen, alles Zureden und Bitten hatte keinen Zweck und so waren wir gezwungen, andere Seiten aufzuziehen und durch die örtliche Polizei alles gestohlene Gut zu beschlagnahmen. Dieser Zustand ausgesprochener Kleptomanie zog immer weitere Kreise und dehnte sich schließlich auf alles aus. Es war tatsächlich nichts mehr heilig, ja selbst die Wohnungen wurden bestohlen, aber nicht allein von Fremdarbeitern.

Was in unsrer Macht stand, haben wir getan, was wir verhindern konnten, verhindert und sehr viele, welche heute auf uns schimpfen, tun dies nur deshalb, weil wir ihnen damals irgendwo ihre Pläne durchkreuzten. [...]

Einmal verhinderte ich mit der Polizei durch energisches Eingreifen die Auslieferung von 1.500 Eiern aus Pfungstadt und verteilten sie an die Bevölkerung. Am laufenden Band ließen wir wöchentlich auf der Freibank abgängiges Vieh aushauen und störten uns vorerst nicht im geringsten an behördlichen Verordnungen. Auch die Ausgabe von Lebensmitteln aller Art übernahmen wir auf eigenen Verantwortung und bekamen auf Bürgermeistertagungen eine Rüge nach der anderen. Andererseits beschlagnahmten wir alle Lagerbestände der Industrie, besonders die dort lagernden Warenbestände und Materialien und sicherten so dem Staate unheimliche Werte. In einem Lager allein Stoffe aller Art im Werte von über 1 Million Mark.

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Plünderung eines in Griesheim liegen gebliebenen Zuges durch deutsche Zivilisten in den letzten Kriegstagen. (Foto StA Darmstadt).


Zum 1. Mai 1945 flatterten bei uns neue, blutrote Fahnen im Winde. - Im festlich geschmückten Rathaussaal trafen sich früh um 9 Uhr alle alten Funktionäre der Arbeiter - Bewegung als geladene Gäste zu einer bescheidenen Feierstunde. Im Norden und Osten des Reiches tobte noch die Schlacht, sprachen noch die Kanonen ihre eherne, nachhaltige Sprache und die Detonationen der Fliegerbomben auf die wehrlose Bevölkerung der Städte und Dörfer gaben dem ganzen Geschehen eine besonders harte Note. Dessen eingedenk fand unsere Feier in bescheidenem Rahmen statt und trug den Charakter einer Festversammlung. Schon die Tatsache allein, daß im Westen der Reiches der Faschismus gestürzt war und wir so wenigstens wieder die Freiheit der Sprache erlangt hatten, erfüllt uns mit Stolz und Freude. Und so war dieser Tag für uns ein Fest- und Feiertag und dazu noch der erste seit 1933.

Genosse Clemenz hatte mir die Festrede übertragen, während er selbst zu unseren kommunalen Aufgaben Stellung nahm. Der große Saal war bis zum letzten Platz gefüllt und alle Männer und Frauen waren begeisterte Zuhörer unserer Ausführungen. - Um 10 Uhr 30 kam ein amerikanisches Kommando unter Führung eines Offiziers und untersagte jede weitere Zusammenrottung von Personen und löste die Feier auf. Auch die Fahnen mussten um 11 Uhr eingezogen werden, aber es waren die ersten neuen Fahnen über Deutschland. - So endete unsere erste Maifeier nach dem Sturz des Faschismus in Deutschland. Es war wohl die erste und einzigste Maifeier in Deutschland.
(Aus: Huxhorn, Ein Leben im Dienst des arbeitenden Menschen, S. 135-138)