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2. Gegenwärtige Vergangenheit
1. Entnazifizierung Mit dem am 5. März 1946 für die gesamte amerikanische Besatzungszone erlassenen "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" schuf die Militärregierung die Grundlage zur Ausschaltung aller NS-Aktivisten aus dem öffentlichen Leben. Bereits nach ihrem Einmarsch hatten die Amerikaner die Inhaftierung aller leitenden Parteifunktionäre und Beamten in Internierungslagern und die Überprüfung der Bevölkerung anhand eines mehrseitigen Fragebogens angeordnet. Aufgrund der darin gemachten Angaben erfolgte die Einteilung in die fünf "Sühnegruppen": Hauptschuldige - Aktivisten -Minderbelastete - Mitläufer - Entlastete. In Hessen gab es insgesamt über 900.000 "Betroffene", die eine dieser Kategorien einzuordnen waren. Für die Abwicklung der Verfahren richtete die Landesregierung bis zum Herbst 1946 110 Spruchkammern ein. Ohne Entnazifizierungsbescheinigung war eine Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst, für Angehörige der Gruppe II auch eine Beschäftigung in höheren Positionen in der Wirtschaft nicht möglich. Mit unerfreulichen Begleiterscheinungen wie Denunziationen und zur Entlastung beigebrachten "Persilscheinen" wurden bis Herbst 1948 knapp 170.000 mündliche Entnazifizierungsverfahren vor den Spruchkammern abgewickelt. Die Vermögens- und Haftstrafen wurden übrigens selten voll wirksam: durch juristisches Hinhalten, schlichte Weigerung oder Amnestien erledigten sich viele Urteile, deren Vollstreckung auch nicht ernsthaft verfolgt wurde. Im Laufe des Jahres 1948 drängte die amerikanische Besatzungsmacht aber auf ein Ende der in der deutschen und amerikanischen Öffentlichkeit umstrittenen Entnazifizierungspolitik. In dem sich abzeichnenden "Kalten Krieg" mit der Sowjetunion trat der moralische Auftrag der "Umerziehung" hinter die Interessen einer wirtschaftlichen und politischen Einbeziehung Westdeutschlands in die Front zur Eindämmung des Kommunismus zurück. Im März 1948 wurde die Weiterführung der politischen Säuberung den Ministerien für Befreiung in den deutschen Ländern übertragen. Der Direktor der hessischen Landesmilitärregierung, James Newman, teilte am 7. Mai 1948 dem hessischen Ministerpräsidenten Christian Stock mit, dass alle Verfahren künftig durch deutsche Behörden abzuschließen seien. Seit 1. Oktober 1848 arbeiteten nur noch acht der einst 110 Spruchkammern. Statistische Angaben zum Stand der Entnazifizierung in Hessen zum 31. Oktober 1949
Aus: Armin Schuster: Die Entnazifizierung in Hessen 1945 - 1954. Wiesbaden: Historische Kommission für Nassau 1999, S. 368 Formal wurde die Entnazifizierung mit dem 2. Abschlussgesetz zur politischen Befreiung am 18. Oktober 1951 abgeschlossen. Eine weitere Maßnahme zur Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die NS-Verbrechen war die Vorführung des Dokumentarfilms "Die Todesmühlen". Der Film über die Schandtaten in 300 deutschen Konzentrationslagern wurde in der ersten Märzwoche 1946 in allen Kinos des Landkreises gezeigt. Im "Amtlichen Mitteilungsblatt für den Landkreis Darmstadt" wurde es am 1. März allen Bewohnern des Landkreises zur Pflicht gemacht, sich diesen Film anzusehen, was die Bürgermeister überwachen sollten. Der Bürgermeister von Groß-Umstadt berichtete, dass der Film in fünf Vorstellungen lief, die durchschnittlich gut besucht waren. Die Bevölkerung ist von diesem Film tief beeindruckt worden. 2. Juristische Vergangenheitsbewältigung Der amerikanischen Besatzungsmacht und den deutschen Politikern schien der Neuaufbau einer Demokratie nur möglich, wenn die unter nationalsozialistischer Herrschaft begangenen Verbrechen gesühnt würden. Das "Gesetz zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten" vom 29. Mai 1946 hob die Verjährung von Verbrechen und Vergehen auf, die mit Gewalttaten und Verfolgungen aus politischen, rassischen und religionsfeindlichen Gründen verbunden waren. Die wichtigste den Gerichten zur Verfügung stehende Strafvorschrift war der Landfriedensparagraph (§ 125 StGB) in der bis 1970 gültigen Fassung. In Hessen fanden über 230 Prozesse im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom von 1938 statt, in denen oft mehr als zwei Dutzend Täter aus einem einzigen Dorf angeklagt waren. Den Angeklagten fehlte nicht selten jegliches Unrechtsbewusstsein. 3. Jüdische Mitbürger - was ist geblieben? Die 1946 zu einem offiziellen Organ der Staatsverwaltung gewordenen, zunächst auf private Initiativen zurückgehenden "Betreuungsstellen für Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes" sorgten sich in allen Lebensbereichen um rund 7.500 Personen in Hessen, die zwischen 1933 und 1945 politischer, religiöser oder rassischer Verfolgung ausgesetzt waren. Herbert Hain, der mit seinen Eltern 1937 als 16jähriger aus Dieburg vor dem Judenhaß geflohen war, kehrte mit der siegreichen US-Armee nach Deutschland zurück; als er in Hessen stationiert war, besuchte er 1946 Freunde seiner Familie in Dieburg (Foto: Privatbesitz) Neben zigtausend von den Nationalsozialisten überwiegend aus Polen nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitern hielten sich in Hessen von Kriegsende bis zum Jahr 1949 auch etwa 35.000 jüdische "displaced persons" (DPs) auf. Es waren Überlebende aus den nationalsozialistischen Vernichtungslagern, aber auch Flüchtlinge vor neuen Verfolgungsmaßnahmen in Osteuropa. In Hessen existierten landesweit 29 von der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) versorgte Lager. Das größte Lager befand sich mit 3.500 Menschen in Frankfurt-Zeilsheim. Daneben gab es im Gebiet des heutigen Landkreises Darmstadt-Dieburg zwischen 1946 und 1949 jüdische DP-Lager in Dieburg (899 Personen) und in Babenhausen (1.257 Personen). Die Unterbringung mitten unter der deutschen Bevölkerung und die deutlich bessere Versorgungslage durch die UNRRA führte im Winter 1946/47 zu antijüdischen Übergriffen. Jüdische Flüchtlingsgemeinden in Dieburg und Darmstadt suchten ihre Mitglieder auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Die Bewohner der jüdischen DP-Lager sahen ihre Zukunft außerhalb Deutschlands. Sie bereiteten sich durch Umschulungskurse auf neue Berufe z.B. als Schneider vor. Am 7. März 1948 fanden im "Jewish DP Camp Dieburg" Wahlen zum "Local Camp Committee", also der Lagervertretung, statt. Vier Parteien stellten sich zur Wahl. Dabei wurde im Zeichen des entstehenden Judenstaates in Palästina auch für die Haganah, die jüdische Untergrundarmee, geworben. Die von der amerikanischen Militärregierung und den deutschen Behörden verlangten Übersichten über die in den Gemeinden lebenden Juden machten deutlich, wie perfekt die Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches gewütet hatte, - nicht nur gegen jüdische Menschen, sondern auch gegen ihre Gotteshäuser und Friedhöfe. In Dieburg wie in anderen Orten wurden ehemalige Funktionäre der NSDAP dazu gezwungen, die Spuren ihres Vandalismus auf den jüdischen Friedhöfen eigenhändig zu beseitigen. Bis 1938 hatten fast in der Hälfte der Gemeinden der Landkreise Darmstadt und Dieburg Juden gelebt, waren 20 Synagogen nachweisbar. Von diesen waren nach 1945 noch 16 erhalten; 10 verschwanden allerdings in den folgenden Jahren durch Abriß oder völligen Umbau. Nur wenige blieben als Synagogen erkennbar, wie die in Groß-Umstadt, die allerdings in den Hessenpark umgesetzt wurde, oder die in Pfungstadt, deren Renovierung zur kulturellen Nutzung 1995 in Angriff genommen wurde. Antisemitische Ressentiments wirkten in einzelnen Krawallen wie in Friedhofsschändungen auch nach 1945 weiter. Ein jüdisches Gemeindeleben hat sich bis heute in den Orten des Landkreises nicht wieder entwickelt. 4. Heimkehrer und Vertriebene Zu Kriegsende war das Schicksal vieler Soldaten noch ungeklärt. Fast alle Familien warteten auf eine Nachricht über den Verbleib von Angehörigen. Im Laufe des Sommers 1945 kamen vereinzelt ehemalige Soldaten zurück. Andere konnten ihre Angehörigen wenigstens durch Kriegsgefangenenpost verständigen, daß sie den Krieg überlebt hatten und auf baldige Heimkehr hofften. Im folgenden Jahr nahm die Zahl der Heimkehrer merklich zu, da vor allem die Engländer und Amerikaner den größten Teil der sich in ihrem Gewahrsam befindlichen ehemaligen Wehrmachtsangehörigen zügig entließen. Dagegen gelangte der erste Transport von 620 Spätheimkehrern aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft erst Anfang Oktober 1955 am Zonengrenzbahnhof Herleshausen an. In 25 Güterwagen wurden die Gefangenen aus dem Lager Swerdlowsk an die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland gebracht. Zu diesen zählte auch der Schaafheimer Bürger Ernst Richter. Die Freilassung der letzten Kriegsgefangenen hatte Bundeskanzler Adenauer bei seinem historischen Besuch im September gleichen Jahres in Moskau ausgehandelt. Gemeinschaftsunterkunft für Ostflüchtlinge in Groß-Bieberau (Foto StadtA Groß-Bieberau) Auf die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz hin kam es vom Sommer 1945 an zur systematischen Umsiedlung der in Ostpreußen, Schlesien, dem Sudetenland, Ungarn und anderen Regionen Ost- wie Südosteuropas verbliebenen deutschen Bevölkerung. In der US-Zone hatte Hessen 27 Prozent der Vertriebenen aufzunehmen; insgesamt waren dies über 600.000 Menschen. Allein im Mai 1946 waren 80.000 Ausgewiesene in die Landkreise einzugliedern, was kaum lösbare Probleme mit sich brachte. Im Zuge der Vertriebeneneingliederung kam es aber auch zur Ansiedlung bzw. Neugründung von Industriebetrieben. |
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Dokumentenliste
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