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Gedruckte Dokumentation

Zeitalter des Absolutismus in Hessen-Darmstadt


Einleitung

Als Landgraf Ernst Ludwig (1678-1739) nach zehnjähriger Regentschaft seiner Mutter Elisabeth Dorothea 1688 selbst die Regierung übernahm,

Johann Christian Fiedler: Landgraf Ernst Kudwig
J.C. Fiedler: Landgraf Ernst Ludwig

litt die Landgrafschaft noch unter den alten Kriegsfolgen des 30jährigen Krieges sowie unter neuen, die entstanden durch französische Truppen, die 1674, 1689 und 1693 im Laufe der Reunionskriege bzw. während des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688-97) in die Landgrafschaft eingefallen waren, Städte und Festungen (Rüsselsheim, Zwingenberg) zerstört und erneut Brandschatzungsgelder gefordert hatten. Ein Versuch, mit der Ansiedlung von 300 Hugenottenfamilien die Wirtschaftskraft der Residenz Darmstadt zu stärken, scheiterte 1695, da weder der Rat noch die Kirche so viele Fremdgläubige in der Stadt dulden wollten. Nur außerhalb der Hauptstadt, in den Odenwalddörfern Rohrbach, Wembach und Hahn sowie in Waldorf und Kelsterbach wurden einige hundert Waldenser angesiedelt. Sie blieben - isoliert, ohne weitere Infrastruktur und Förderung - Bauern, als die sie gekommen waren und brachten keine wirtschaftliche Bereicherung.

Die etwa 100.000 Einwohner der Landgrafschaft wurden durch 30 Ämter verwaltet, die jeweils einer Regierung in Darmstadt bzw. Gießen unterstanden. Deren Regierungs- und Kammerräte bildeten jeweils ein Kollegium, dem der Geheime Rat vorgesetzt war. Dessen Mitglieder waren wiederum zugleich Präsidenten der Regierungen und Richter der Revisionsinstanz (Oberappellationsgericht). Natürlich lag die letztendliche Entscheidungsgewalt immer beim Landgrafen als dem Herrscher von Gottes Gnaden, dem die Geheimen Räte unterthänigste Berichte zustellten. Der insgesamt recht bescheidene Zuschnitt der Landgrafschaft zeigte sich auch darin, dass die Räte, in deren Händen ausführende, richterliche und gesetzliche Gewalt zusammenliefen, gleich mehrfache Funktionen im Geheimen und im Regierungs-Rat hatten, aber auch zwischen Regierung und Hof öfter Ämterkumulation herrschte (was bis zur Tätigkeit von Musikern der Hofkapelle in Regierungsstellen reichen konnte). So war der Geheime Rat Christian Eberhard Kameytsky von Elstibor auf Rückingen zugleich auch 1. Kammerjunker und Prinzenhofmeister bei Landgraf Ernst Ludwig.

Als Ernst Ludwig 1688 mit 21 Jahren selbst die Regierungsgewalt übernahm, orientierte er sich an Frankreich und dessen König Ludwig XIV als europäischem Vorbild und begann ein umfangreiches Bauprogramm. Erstes Projekt war der Umbau des Theaters zur Oper (1711), denn Bühnen waren für Ernst Ludwig wie für andere Herrscher der Barockzeit Symbol der Selbstdarstellung. Französisches Vorbild dominierte: das neue Opernhaus wurde 1712 mit dem Télémaque (nach Fénélon) des neueingestellten Hofkomponisten Christoph Graupner eingeweiht. Nahe bei der Stadt (in Bessungen) wurde außerdem eine große Orangerie mit Garten und Gewächshaus begonnen.

Das alles kontrastierte erheblich mit der doch sehr bescheidenen Residenz Darmstadt, die um 1700 gerade wieder die etwa 2.000 Einwohner erreicht hatte, die es vor dem 30jährigen Krieg besaß. Die Altstadt der Residenz bestand überwiegend aus Fachwerkbauten, nur am Marktplatz und in zwei Straßenzeilen hatten die Landgrafen Steinhäuser für Angehörige des Hofstaats und fürstliche Beamte errichtet. Die ganze Stadt orientierte sich am Schloss, das aus einer im 13. Jahrhundert errichteten Wasserburg der Grafen von Katzenelnbogen inzwischen auf drei Höfe mit Wohnungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäuden sowie einem holländischen Glockenspiel erweitert worden war.

Ein Zufall beförderte die Baupläne Landgraf Ernst Ludwigs: Am 19. Mai 1715 schrieb er eigenhändig und in großer Hast einen Brief an seinen engsten Berater, den Geheimen Rat Freiherr Christian Eberhard von Kameytsky: eine große Feuersbrunst habe das halbe Schloß und besonders den Kanzleitrakt des Darmstädter Schlosses in Asche geleget, auch waren leyder verschiedene Personen verglüht und umbs Leben gekommen. (Dok. 1) Ob der Brand die katastrophale Folge eines heimlichen Luxus-Konsums von Dienstboten war, nämlich der Unvorsichtigkeit einiger Mägde beim Kaffeekochen auf dem Dachboden, wie bald in Darmstadt geraunt wurde, läßt sich nicht mehr überprüfen. Jedenfalls muss die Gefahr einer völligen Stadtzerstörung bei dem überwiegend aus Holzbauten bestehenden Stadtkern die Zeitgenossen total schockiert haben. Vom Landgrafen wurde das zuerst als Züchtigung empfundene Ereignis schnell in eine günstige Gelegenheit umgemünzt. Schon vier Wochen später begannen die Überlegungen zum Neubau, für die sogar schon der geeignete Architekt zur Hand war: der im vorangegangenen Winter unter Vertrag genommene französische Ingenieur und Architekt Louis Rémy de la Fosse (1659-1726).

Ernst Ludwig hatte sich seit 1711 bemüht, de la Fosse nach Darmstadt zu ziehen, der schon für den preußischen König und für den Kurfürsten von Hannover gearbeitet hatte. Sein erster Auftrag in Darmstadt war der Umbau des Reithauses zur Oper. Als Ingenieur-Major und Oberbaumeister der Landgrafschaft wurde ihm 1714 die Aufsicht über alle Bauvorhaben übertragen, wobei zunächst die Befestigung der Rheindämme wegen der Hochwasserschäden im Vordergrund stand. Haupttätigkeitsfeld aber wurde bis zu seinem Tod der Entwurf und die Leitung des Schlossneubaus. Das Vorbild Versailles war bis in Details merkbar: Arkadenhöfe, ein die Pavillons ums Doppelte überragender Turm für das Glockenspiel, neu geformte Wallgärten. (Dok. 2) Ein Kupferstich, der dem Landgrafen Ernst Ludwig zum 50jährigen Regierungsjubiläum 1738 überreicht wurde, gibt den monumentalen Bauplan (nach einem Modell) wieder wie auch in einem Widmungsvers die ideologische Äberhöhung der Darmstädter Pläne auf die Maßstäbe des alten Rom. (Dok. 3) Als römischer Triumphbogen mit Allegorien war das Tor konzipiert, das monumental gegenüber dem städtischen Gemüse- und Handwerkermarkt wie dem Rathaus lag.

Die für den Umbau erforderlichen Kontributionen und Sondersteuern konnten allerdings erst nach Verhandlungen mit den Landständen von den Untertanen eingezogen werden. Die etwa alle 5 Jahre tagenden Vertreter der Städte, des (vor allem oberhessischen) Adels mit eigenem Besitz und der Universität Gießen bewilligten Mittel allerdings nur für konkrete Zwecke und begrenzte Fristen. Im Gegenzug sicherten sie sich ihre hergebrachten Rechte wie auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die landesherrliche Politik. Auch die Geheimen Räte waren von dem offenbar sofort vorgelegten Plan des Architekten de la Fosse, der 400.000 Gulden nötig machte, eher abgeschreckt und ahnten angesichts des Landes erarmten Zustand, daß das Bauvorhaben noch dero Successoribus im Regiment belasten werde. Daher forderten sie, daß der Fürst sich hausväterlich bescheiden sollte und nicht alles noch Stehende einreißen, sondern wenigst anfangs so viel darvon stehen zu lasen geruhen möchten, daß man zur Noth darin logiren könne. Nach langen Verhandlungen bewilligte der Landtag unter immer wieder erneuten Hinweisen auf die große Not und Armut der mehristen Unterthanen des Landes schließlich 300.000 Gulden, die allerdings auf einen Zeitraum von 7 Jahren verteilt einzuziehen waren, und zwar jährlich zweimal je 20.000 Gulden. (Dok. 4)

Neben der Geldleistung waren die Untertanen aber noch zu direkten Arbeitsleistungen, zur Fron verpflichtet. So wurden die Bewohner der Obergrafschaft zum Aufräumen der Trümmerstätte direkt nach dem Schloßbrand befohlen. Zum Abbrechen der stehengebliebenen Mauern, zum Wegschaffen von Schutt und Steinen mußten die Bauern von Rüsselsheim, Lichtenberg, Zwingenberg und anderen weit entfernten Orten kommen, ebenso wie auch die Baumaterialien von den Entladestellen an Main und Rhein nach Darmstadt von ihnen zu transportieren waren. Im Herbst 1715 wurde aus den penibel geführten Listen sichtbar, daß manchmal 20, manchmal 31, ja 54 Mann nicht zur Hülffe erschienen waren. Darauf begann ein Schriftwechsel der Regierung mit den verantwortlichen Amtleuten, in dem sich schließlich die Geheimen Räte zu Anwälten der Untertanen machten und ein Ende der Fronarbeit - unter Berufung auf die gleichzeitig zu leistenden Kontributionszahlungen - erreichen konnten. (Dok. 5)

Die Maurer-, Schlosser-, Maler-, Dachdeckerarbeiten u.a. wurden dann von qualifizierten Handwerkern ausgeführt, wobei sich als weiteres Hindernis herausstellte, dass in der Landgrafschaft noch keine einheitlichen Längenmaße existierten, so dass Baumeister de la Fosse einen verbindlichen Werkschuh festsetzen musste, der am Rathaus öffentlich angebracht wurde. Zu Tagelöhnerarbeiten wurden aber weiterhin auch ungelernte Arbeitskräfte herangezogen, darunter auch Sträflinge, die zu Arbeitsleistung oder aber zu einer Geldstrafe verurteilt waren: 14 Tage Arbeit waren der Gegenwert von 12 Gulden Strafe (wobei 1 Gulden die durchschnittliche Beitragsleistung pro Familie und Jahr für die Schlossbaukontribution war). Bei diesen Arbeitern wurden angesichts ihrer - bei der äußerst geringen Entlohnung erklärbaren - Faulheit auch schon mal Lohnkürzungen oder hinlängliche Schläge angeordnet. Das geschah auf Ersuchen von de la Fosse, der sich in diesem Fall wie der Capitaine einer Straf-Galeere fühlte. (Dok. 6)

Im Jahr 1722 konnte man nicht einmal mehr das Gehalt des Baumeisters de la Fosse bezahlen: Das war das Ende der hochfliegenden Baupläne. Die Schuldenlast des Landes war durch die nötigen neuen Kredite auf 1.100.000 Gulden gestiegen. In einem letzten Akt wurden für eine provisorische Fertigstellung noch einmal 100.000 Gulden bewilligt. ... daß Ihro Hochfürstliche Durchlaucht dero Residenz ... wieder beziehen und darinnen dero eigene fürstliche Wohnung etwas bequemer haben mögen. (Dok. 7)

Obwohl Ernst Ludwig auch mit obskuren Mitteln (die bis zur Alchemie oder zur Planung eines Münzbetrugs reichten) vergeblich versuchte, die Finanzlage zu verbessern, waren bei seinem Tod 1739 die Schulden auf 4 Millionen aufgelaufen, das Zehnfache der jährlichen Einnahmen von ungefähr 400.000 Gulden. Erst zum Ende des 18. Jahrhunderts gelang dem bürgerlichen Reformer Karl Friedrich Moser eine Schuldentilgung, die Jahrzehnte in Anspruch nahm.

Das Darmstädter Schloss blieb ein Provisorium, auf das Reisende in den nächsten hundert Jahren immer wieder hinwiesen: Das Residenzschloß ist so groß angelegt worden, als wenn alle Fürsten Deutschlands zugleich darin wohnen sollten; allein - es ist unvollendet geblieben. Auf den ersten Blick glaubt man ein sehr großes Magazin zu sehen, weil das untere Geschoß noch immer nicht mit Glasfenstern versehen, sondern jede Fensteröffnung mit Brettern zugenagelt ist. Dieser Anblick macht einen sehr widrigen Eindruck. (Johann Heinrich Campe, 1786) Der Landgraf residierte künftig nicht mehr im Schloss, sondern in einem kleineren Palais am Marktplatz. Im Schloss blieben die Wache und das Archiv, später wurden die Bibliothek und die landgräflichen Sammlungen hier untergebracht. Für diese wurde das Neuschloss dann im 19. Jahrhundert fertig ausgebaut.

Eine weitere standesgemäße Beschäftigung für Herrscher im Zeitalter des Barock war die Jagd. Die Wälder um die Residenz wurden zu einem einzigen Jagdrevier. Sehenswert ist heute die Jagdhistorischen Sammlungen und das Museum zur Geschichte der Jagd im Jagdschloss Kranichstein (http://www.jagdschloss-kranichstein.de).


G.A. Eger: Der Hirsch im Großen Woog, um 1755

In rascher Folge entstand nach 1708 ein ganzes Netz von Jagdhäusern - teils leichtere Pavillons (Dok. 8), aber auch solide Schlossanlagen (z.B. Wolfsgarten) - sowie zahlreiche Jagdschneisen, die den Reitertrupps z.B. bei der Parforcejagd den Galopp erleichterten. Wie der Chronist Johann Buchner notierte, jagte Landgraf Ernst Ludwig Schwarz-, Rot- und Federwildpret. Bei den Jagdgesellschaft wurden manchmahl 100 und mehr Stück Schweine gefället [...] geschweige der kleinen und Hasenjagden, da zu Zeiten in einem Tag, zwischen Groß- und Kleinen-Gerau und denen flachen Feldern bey dem sogenannten Schönauer-Hof 700, 800, 900 biß in die 1000 Stück Hasen geschossen worden. (Dok. 9, Dok. 10) Das Jagen der fürstlichen Herren in Europa war weder ökonomisch notwendig noch eine Art Herren- Sport: Es war ein aufwendiges Ritual geworden, das nicht nur zahlreiches Personal erforderte, sondern in der Form der Parforce (=Hetz)-Jagd auch Erträge und Substanz der Landwirtschaft vernichtete. Eine Wildschadensaufstellung aus den 1720er Jahren listete auf, was Ihro Hochfürstliche Durchlaucht Unser Gnädigster Herr durch seine über Äcker hetzenden Reittrupps wie das ungestört auf den Feldern äsende Wild an Ernte- und Einnahmeausfällen verlor: nicht weniger als 90.000 Gulden allein in der Obergrafschaft, ein Viertel der jährlichen Landesausgaben. (Dok. 11) Landgraf Ludwig VIII. (1739-1768) setzte als Jäger - Landgraf das ruinöse Hobby seines Vaters fort und schuf sich seine eigenen Annalen in einer Art Jagdtagebuch, in dem sein Forstmeister Rautenbusch das Schicksal von Dutzenden erjagter Hirsche in Vers und Bild für die Nachwelt festhielt. (Dok. 12, Dok. 13)

Der staatliche, kreditfinanzierte Auftragsboom der landgräflichen Baulust förderte zunächst einmal die Wirtschaftskonjunktur, brachte den Handwerkszünften Zuwachs (was die freilich gar nicht so gern sahen). Lokale Maschinenbetriebe wie Papiermühle, Eisenhammer und Glashütte wurden in der Nähe von Ober-Ramstadt bei Darmstadt gegründet. Diese Konjunktur war aber künstlich angeheizt, war nicht gedeckt durch eine Exportproduktion, wie sie nach Colbertschem Modell die Staatseinkünfte vermehren sollte. Denn außer etwas Leineweberei in Oberhessen gab es kein zu exportierendes Produkt. Die Glasmanufaktur im Mordachtal machte Konkurs, der Eisenhammer belieferte nur die Obergrafschaft. Daher blieb in Hessen-Darmstadt nur die andere Seite der merkantilistischen Politik übrig: die Akzise und das Monopol. Seit dem 17. Jahrhundert wurden Verbrauchssteuern (Akzise) auf Getreide, Fleisch, Bier, aber auch Salz und die neuen Kolonialprodukte Tabak und Kaffee erhoben. Salz, Tabak und Kaffee wurden zu Anfang des Jahrhunderts als Handelsmonopol jüdischen Großhändlern überlassen. (Dok. 15, Dok. 16) Mit diesem ungeliebten Monopol, wobei gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Kaffee wichtiger als der Tabak wurde, ist eine neue Gelegenheit geschaffen, in den Juden Urheber von Drangsal und Übel zu sehen: 1722 machten die Landstände eine Eingabe, in der sie klagen, daß bald die Christen der Juden Knechte sein werden, und sie bitten - wie fast immer, wenn sie zusammenkommen, - um die Abschaffung, zumindest die Verhinderung weiteren Zuzugs von Juden. Der Landgraf Ernst Ludwig freilich kannte in dieser Hinsicht keine Vorurteile: wie er die Hugenotten als Calvinisten in seinem lutherischen Land zugelassen hatte, so gestand er 1695 den Juden auch - zum ersten Mal seit den ausdrücklichen Verboten seines Stammvaters Philipps des Großmütigen - die Einrichtung einer Synagoge in der Residenz für den Gottesdienst zu (allerdings sollen sie ihre Gebete in der Stile ohne lautes Ruffen verrichten). Die vielleicht 100 Familien in der Landgrafschaft – 24 Familien leben 1722 in der Hauptstadt - haben sich seit 1686 in Judenlandtagen organisiert, wo sie die Umlagen für die immer noch von ihnen verlangten Sondersteuern verteilen (unter denen recht diskriminierende waren, wie die Unterhaltung der Jagdmeute oder die Kleppergelder für die nicht mehr tauglichen alten Pferde des Landgrafen).

Die Finanzmisere machte sich das ganze 18. Jahrhundert hindurch weiter bemerkbar. In den folgenden Jahren lösen sich Verordnungen gegen das Auswandern (Dok. 14) und Betteln mit Klagen über den Luxus in wechselnder Folge ab. (Dok. 17, Dok. 18) Allerdings waren letztere kaum eine Reaktion auf eine wieder hergestellte, allenfalls bescheidene Normalität, die nur im Vergleich zu den Kriegszeiten als relativer Wohlstand gelten konnte. Vielmehr kommt hier wohl vor allem das Ordnungsdenken zum Ausdruck, das verhindern will, dass fast kein Stand mehr vor dem andern zu unterscheiden sei und jeden Untertan seines Herkommens, Standts und Vermögens erinnern will: an der Kleidung sollen die Eltern und Standts Vorfahren zu erkennen sein, wie auch unverheiratete und Ehefrauen deutlich von zu Fall gerathenen Personen zu unterscheiden sein sollten. Das Betteln wurde nicht als solches, sondern nur den fremden Bettlern mit falschen Pässen und Attestata verboten, weil denen rechten Armen durch solche Betriegereyen viele Allmosen entzogen werden.

Landgraf Ludwig IX (1768-1790) wurde mit einer anderen, ebenfalls ausgabenfreudigen Eigenheit bekannt: Als Soldaten - Landgraf ließ er nach dem Vorbild des preußischen Alten Fritz sein Leibregiment permanent exerzieren. (Dok. 19, Dok. 20) Dabei setzte er es weder den Gefahren von Kriegen noch den Unbilden der Witterung aus - die dauernd neu erfundenen, auf Kartons von einem eigens bestallten Maler gezeichneten Uniformen waren dafür auch zu kostbar - und ließ eigens zum Paradieren eine Exerzierhalle in Darmstadt erbauen, die 140.000 Gulden kostete und die größte Deutschlands war. (Dok. 21)

Immerhin ging er nicht den Weg des hessen-kasselischen Landgrafen - Vetters, der seine Soldaten für den amerikanischen Krieg an die britische Krone vermietete. Einerseits ließ der Soldaten - Landgraf seine nach Größe sorgfältig bilanzierten Soldaten wie kleine Uhrwerke unablässig Griffe kloppen, andererseits schaffte er gleich bei Regierungsantritt die - nach Georgs I. (1567 – 1596) Peinlicher Gerichtsordnung immer noch gültige - Folter ab. Auch mühte er sich erheblich, die vom Großvater ererbte Schuldenlast endlich zu beseitigen. Einige Jahre lang (1772-1780) überließ der Landgraf faktisch die Politik seinem Minister Friedrich Karl von Moser. Der bekam die Schulden und die ungeduldiger werdenden Gläubiger durch einen Tilgungsplan in den Griff. Zu seinen Versuchen, mehr Rationalität in die Verwaltung zu bringen (um genau zu wissen, wieviel verdient wurde und gesteuert werden sollte) gehört auch eine Landesstatistik (die Moserschen Tabellen), die den ersten exakten Überblick über Menschen, Gewerbe, Handwerk, Flächen und Vieh gaben: 167.646 Personen lebten in der Landgrafschaft. Physiokratische Reformen (Fäkaldüngung, Stallfütterung, Anbau von Klee und Kartoffeln) sollten die Produktivität der Landwirtschaft steigern. Die Versuche der Moserschen Land-Commission, jahrhundertealte Gewohnheiten in Feld und Weide zu verändern, stießen einerseits auf Unbeweglichkeit im Land der Dämmerung und des Schlendrians (Moser); andererseits war die absolutistische Zwangsverwaltung aber auch nicht geeignet, Initiative und Aktivität wirklich zu fördern. Der autoritär-rationalistische tabellarische Geist (J.H. Merck) führte eher zu bockiger Verweigerung als zu Änderungsbereitschaft bei den Bauern. So machte Darmstadt zum Ende des absolutistischen Zeitalters keinen blühenden Eindruck, man sah viel Industrie [=Fleiß], aber wenig Wohlstand (Dok. 22).

Das Bürgertum setzte sich aus den städtischen Handwerkern, den Pfarrern und den Beamten zusammen, wobei die letzteren in der Regel alle in Gießen studiert hatten. Charakteristisch war im Grund seit dem 15. Jahrhundert, dass die Politik maßgeblich durch ein eng verflochtenes Beamtenbürgertum aus den ratsfähigen Familien der Städte ausgeführt und mitgestaltet wurde. Die Nachrücker in die höchsten Ämter, den Geheimen Rat, wurden gelegentlich auch von außerhalb berufen. Jedenfalls war die bürgerliche Prägung der Landgrafschaft außerordentlich stark, und zwar nicht nur bei den Verwaltungsbeamten, sondern auch im Militär bis zu den höchsten Offiziersstellen, die anderswo in diesem Jahrhundert üblicherweise Domäne des Adels waren. Die Landgrafen zogen den Adel, den es nur in Oberhessen gab, kaum für Verwaltungsfunktionen heran; sie hatten sich mit dem Bürgertum arrangiert und es in gewissen Grenzen an Machtteilhabe so gewöhnt, dass auch zur Zeit der Französischen Revolution ein Bedürfnis nach grundsätzlicher Änderung nicht bestand. Es gab kaum eine kritische Intelligenz im Bürgertum, keine unabhängigen Zeitungen (wie in Berlin, Göttingen oder Hamburg). Das Darmstädtische Frag- und Anzeigungsblättgen war seit 1739 offizielles Mitteilungsblatt der Regierung und die Hessen-Darmstädtische privilegirte Landzeitung (Dok. 23) 1777 zur Propagierung der Landwirtschaftspolitik eingerichtet worden. Der berühmte Schriftsteller Matthias Claudius wurde als ihr erster Redakteur geworben, gab aber seine Versuche, die Information über Stallfütterung und Kartoffelanbau mit etwas moralischer Sozialkritik zu vertiefen, schon nach einem Jahr wegen der (geistig zu verstehenden) Unbehaglichkeit der hiesigen Luft wieder auf. Von nicht allzu hohem Niveau war auch die Universität Gießen; die (etwa 250) Studenten beschäftigten sich wohl vor allem damit, zu saufen und sich untereinander zu duellieren: Wer ist ein rechter Bursch? - Der stets im Karzer sitzt, einhertritt wie ein Schwein hieß es in einem zeitgenössischen Spottgesang. Aus dieser Mittelmäßigkeit ohne Anreiz und Anregung strebten Ehrgeizige oder Begabtere bald fort: etwa der kritische Autor Helferich Peter Sturz (1736-1779), der baldmöglichst in dänische Dienste ging oder Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), der mit 21 Jahren Darmstadt verließ, um in Göttingen eine glänzende Karriere als Professor der Physik und aufklärerischer Schriftsteller zu machen.


J.J. Hill: Prospect des Hochfürstlichen Residenzschlosses und Hauptstadt Darmstadt, 1776






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  1. Brief von Landgraf Ernst Ludwig an seinen Vertrauten und Rat, Kameytsky über den Brand des Darmstädter Schlosses, 19. Mai 1715 (StAD: D 4 Nr. 359/1)
  2. Zeichnungen des Architekten Louis Rémy de la Fosse für Arkaden, Fenster u.a. Details des Schlossneubaus. - (StAD D 14 A Nr. 75 G/6)
  3. Denkschrift der Δmter Seeheim, Zwingenberg und Jägersburg zum 50jährigen Regierungsjubiläum Landgraf Ernst Ludwigs mit einem Kupferstich des geplanten Schlossbaus. - (StAD D 4 Nr. 337/60)
  4. Beschluss des Landtags zu Gießen am 10. Sept. 1715, betr. Bewilligung der Gelder für den Neubau des Schlosses in Darmstadt. - (StAD: E 2 Nr. 27/14)
  5. Briefwechsel zwischen Landgraf Ernst Ludwig und seinen Räten über Arbeitsverweigerungen beim Schlossbau. - (STAD: E 14 A Nr. 70-71)
  6. Brief des Architekten de la Fosse an Baron Riedesel wegen mangelnder Disziplin bei den Bauarbeiten. - (StAD E 14 A Nr. 74/11)
  7. Beschluss des Landtags vom 16. Mai 1722, den Untertanen keine weiteren Lasten für die Fertigstellung des Schlossbaus aufzuerlegen. - (StAD E 2 Nr. 28/8)
  8. Parforcejagd an der Dianaburg; Gemälde von Georg Adam Eger, 1765. (Jagdmuseum Kranichstein)
  9. Fürstlich hessen-darmstädtische Forst- und Wald- auch Waidwercks- und Fischerei-Ordnung, Darmstadt 1724. S. 31-40: Von der Wildfuhr, Wildbahnen und Wildpretsfrohnen
  10. Jagd am Kranichsteiner Teich, Gemälde von Georg Adam Eger, 1755 (Jagdmuseum Kranichstein)
  11. Aus der Wildschadenstabelle (nach 1720): Schäden durch die Jagd in Darmstadt, Eberstadt, Pfungstadt sowie aus Niederramstadt, Niederbeerbach, Waschenbach. - (StAD E 14 E Nr. 202/4)
  12. Jagdtagebuch Landgraf Ludwigs VIII, 10. November 1756. (Schlossmuseum Darmstadt)
  13. Eingestelltes Jagen auf Hirschen, Gemälde von Johann Tobias Sonntag, um 1743. (Jagdmuseum Kranichstein)
  14. Edikt gegen die Auswanderung nach Ungarn, 14. October 1722. – (STAD R 1 Nr. 42/17)
  15. Verordnung betr. das Monopol am Handel mit Tabak und Tabaks-Pfeifen vom 12. Juli 1719. – (StAD R 1 Höpfner Nr. 6/16)
  16. Verordnung gegen den Missbrauch des Caffée- Trinkens vom 12. September 1766. – (StAD R 1 Höpfner Nr. 43/70)
  17. Verordnung gegen zu aufwendige Trauerkleidung vom 25. Januar 1769. - (StAD R 1 18/86)
  18. Verordnung gegen zu viel Aufwand bei Hochzeiten, Kindstaufen, Begräbnissen und Zunftmahlzeiten, 15. Juli 1774. – (StAD R 1 Nr. 18/118)
  19. Exerzierzeichnungen mit dem Gewehr, ca. 1800. - (StAD E 8 B Nr. 226/1)
  20. Regulativ der Exerziermanöver, 1745. - (StAD E 8 B Nr. 226/2)
  21. Darmstädter Exerzierhaus (87 mal 43 Meter), erbaut 1770-72 von Johann Martin Schuhknecht. (Gemälde von J.M. Petzinger, 1824; Stadtarchiv Darmstadt)
  22. Aus: J. H. Campe: Reise von Hamburg bis in die Schweiz im Jahre 1785. Wolfenbüttel 1786 , S.262-268.
  23. Hessen-Darmstädtische privilegirte Land-Zeitung. Die Ausgabe vom 25. August 1789 berichtet von Unruhen, dem Freiheitstraum in Paris.